In die Nacht hinein: Roman (German Edition)
untröstlich auf Missys Bett vor, als wartete sie auf einen Bus, der sie irgendwohin bringen soll, wo sie nicht unbedingt hin will.
»Weg?«, sagt Peter von der Tür aus.
»So sieht es aus«, antwortet sie.
Er muss sich im Lauf der Nacht hinausgeschlichen haben, als sie beide schliefen.
Ja, diese Pillen haben ihren Zweck erfüllt. Wenn Peter nicht so bedröhnt gewesen wäre, hätte er Missy gehen gehört.
Und was hätte er seiner Meinung nach getan, wenn er ihn gehört hätte?
Er und Rebecca suchen halbherzig nach einer Nachricht und wissen, dass es keine gibt.
Rebecca steht hilflos mitten im Wohnzimmer, die Hände in die Hüften gestützt.
»Der kleine Scheißkerl«, sagt sie erneut.
»Er ist ein großer Junge«, etwas Besseres fällt Peter nicht ein.
»Er ist ein beschissener kleiner Junge, dessen Körper irgendwie groß geworden ist.«
»Kannst du ihn gehen lassen?«
»Glaubst du, mir bleibt etwas anderes übrig?«
»Nein. Das glaube ich nicht. Hast du ihn angerufen?«
»Ja. Glaubst du, er geht ran?«
Hier ist sie also: die Lösung. Missy hat sich verdrückt. Rundum besser. Danke, Missy.
Und natürlich ist Peter todunglücklich.
Natürlich wünscht sich Peter nichts sehnlicher, als dass Missy zurückkehrt.
Traurigkeit und ein unruhiges Knistern durchzucken ihn wie ein Stromstoß.
Rebecca sagt: »Ist gestern irgendetwas vorgefallen?«
Knistern. Ein schwindelerregender Blutschwall schießt ihm in den Kopf.
»Nichts Besonderes«, antwortet er.
Rebecca geht zum Sofa und setzt sich steif hin. Sie könnte eine Patientin in einem Wartezimmer sein. Es lässt sich nicht leugnen – das ist, als würden sie Bea noch einmal verlieren. Als kämen sie heim, nachdem sie sie zur Tufts University gefahren haben, jene dumpfe Leere, gemischt (keiner von ihnen könnte das aussprechen) mit einer gewissen Erleichterung. Kein Schmollen und keine Vorwürfe mehr. Eine neue Art von Sorge, größer, weil sie außer Sichtweite ist, aber gleichzeitig gedämpft, distanziert. Sie ist jetzt auf sich selbst gestellt.
»Vielleicht ist es wirklich und wahrhaftig an der Zeit, ihn aufzugeben«, sagt sie.
Peter kann sie wegen des tobenden Bluts in seinen Ohren kaum hören. Wie ist es möglich, dass sie nichts weiß? Er ist kurz mörderisch wütend auf sie. Weil sie ihn so schlecht kennt. Weil sie nicht begreift, dass er die ganze Zeit das Objekt einer Fixierung gewesen ist, dass ein schöner Junge seit zwei Jahrzehnten von ihm träumt. (Peter ist vorerst zu dem Schluss gekommen, dass Missys Liebe echt ist und jedes Wort, das er auf Carole Potters Rasen gesagt hat, wahr war.) Peter der Skeptische ist mit Missy verschwunden.
Er setzt sich neben sie, legt ihr den Arm um die Schultern, fragt sich, wieso sie ihm die Falschheit nicht anriechen, deren Summen nicht hören kann.
»Du kannst ihm nicht sein Leben retten. Das weißt du doch, stimmt’s?«, sagt er.
»Ja. Ich weiß es. Trotzdem. Er ist noch nie einfach so verschwunden. Er hat mir immer gesagt, wo er ist.«
Ach, richtig. Ein Teil ihrer Bruderliebe ist für sie die Vorstellung, dass sie seine besondere Freundin ist. Dass er sie Julie und Rose vorzieht.
Alberne Menschen.
Sie sitzen eine Weile schweigsam nebeneinander. Und dann, weil es nichts anderes zu tun gibt, ziehen sie sich an und gehen zur Arbeit.
Die Victoria Hwangs sind zur Hälfte aufgestellt, danke, Uta. Peter steht mit seinem morgendlichen Starbucks inmitten der Arbeiten (Uta ist in ihrem Büro und macht ihre Zehntausend Dinge). Es ist mehr vom Gleichen – jetzt ist nicht die Zeit, dass Vic die Richtung ändert. Eine ihrer Installationen (es werden fünf sein) ist komplett aufgebaut: ein Monitor (jetzt dunkel), auf dem, wenn er eingeschaltet ist, ein zehn Sekunden langes Video von einem korpulenten Schwarzen mittleren Alters laufen wird, der irgendwohin hastet, für den Erfolg gekleidet, die Haare kurz geschnitten, einen vorzeigbaren, aber nicht teuren anthrazitfarbenen Anzug unter dem allgegenwärtigen Männermantel trägt, einem beigen Trench, für den er eindeutig ein bisschen mehr ausgegeben hat, und einen erstaunlich ramponierten Attachékoffer in der Hand hat – weiß er nicht, dass der verräterisch ist, man kann doch nicht mit einem derart verschrammten und abgewetzten Aktenkoffer bei einer Konferenz aufkreuzen, glaubt er, das ist cool und unbekümmert (ist es nicht), oder ist es im Moment einfach zu teuer, ihn zu ersetzen? Der Mann überquert inmitten anderer geschäftsmäßiger Fußgänger
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