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In die Nacht hinein: Roman (German Edition)

In die Nacht hinein: Roman (German Edition)

Titel: In die Nacht hinein: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Cunningham
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träumt, dass er irgendwo in die Galerie gepisst hat (ach, das schamlose Unterbewusste) und versucht es wegzuputzen, bevor es irgendjemand sieht, aber natürlich kann er die Pisse nicht finden, weiß nur, dass sie da ist. Irgendwo. Er wacht auf, sinkt wieder in einen Halbtraum, in dem eine seltsame Frau, die, wie ihm klar ist, Bette Rice ist, zu ihm sagt: Sie sind alle seit Jahren weg , was ihm, als er wieder aufwacht, weniger wie ein Traum, sondern eher wie ein wild wuchernder Gedanke vorkommt. Es ist erst Viertel nach zwei, nicht die Zeit der Schlaflosigkeit. Trotzdem steht er auf, um sich seinen Drink und seine Pille zu holen. Im Wohnzimmer … Verrückt, dass er sich auch nur kurz gefragt hat, ob Missy nackt auf ihn warten könnte, und wie schwul ist das, wie schwul ist es nicht , dass Peter ihn wieder so sehen möchte, wie Rodin ihn gegossen hätte, die muskulöse Schnellkraft dieses jungen Körpers, die Aderngeflechte unter der blassen, rosigen Haut, die schielenden Augen und stämmigen Füße. Nein, Missy ist im Bett. Auf der anderen Seite der Tür … Was? Kein Laut, kann Missy etwa schlafen? Scheiß auf ihn, wenn er’s kann. Sollte Peter reingehen? Natürlich nicht. Er gießt sich einen Wodka ein, holt die Tablette aus dem Medizinschrank, stellt sich ans Fenster, und dort, wie kann das sein, ist der Typ im dritten Stock auf der anderen Straßenseite, derjenige, den er nie gesehen hat, an seinem verfluchten Fenster, das muss seine Zeit sein. Er ist voll zu sehen, das Licht in seinem Wohnzimmer brennt. Es ist ein älterer Mann, bestimmt fünfundsiebzig, mit einer Wolke aus weißen Haaren um den rosigen Schädel. Er trägt ein blaues T-Shirt und offenbar (er ist knapp unterhalb der Taille abgeschnitten) eine Pyjamahose. Keine heroische Gestalt, den Schmerbauch hat er fast an die Fensterscheibe gedrückt, trinkt aus einem Keramikbecher. Gibt es, könnte es hier einen Plan geben, irgendein gottverdammtes Muster , ich meine, warum steht Peter ausgerechnet heute Nacht seinem Wachgenossen sozusagen von Angesicht zu Angesicht gegenüber? Nein, Peter steht nur früher als üblich nachts am Fenster, er hat einfach den Schlaflosigkeitsrhythmus des anderen Typs getroffen. Er kann nicht erkennen, ob ihn der ältere Mann sieht, im Grunde geht es gar nicht anders, aber er lässt sich nichts anmerken; Peter würde kein Winken erwarten (nicht in New York, nicht zwischen zwei nur teilweise bekleideten Männern), aber ein Nicken vielleicht oder eine Veränderung seiner Haltung, die zeigen würde, dass er bemerkt worden ist. Nichts, es ist, als wäre Peter überhaupt nicht da, und ihm kommt der Gedanke (wirkt die Tablette bereits?), dass er unsichtbar sein könnte, vielleicht sein eigener Geist sein könnte, tot im Schlaf, als Unsichtbarer aufgestanden, um sich selbst mit über siebzig zu betrachten, wie er mitten in der Nacht noch immer am Fenster steht.Vielleicht ist den Toten nicht klar, dass sie tot sind. Das ist natürlich nur eine Phantasie, ach, was wäre das schön, wenn die Tabletten Wachträume oder irgendetwas anderes bescherten als nur ihren einschläfernden Sog … Aber dennoch, hier ist er endlich, nach so vielen Jahren, der andere, der Doppelgänger, wach in seiner eigenen Welt, vielleicht hat auch er eine Frau, die eine gebenedeite Schläferin ist, und Peter wundert sich unwillkürlich – selbst im hohen Alter schaust du noch immer aus einem Fenster auf die orange Leere der Mercer Street? Solltest du nicht … woanders sein? In Paris? In einer Jurte an der nordpazifischen Küste? Und was würde dich an diesen Orten davon abhalten, sehnsüchtig (sehnt er sich, und wenn ja, wonach?) in die Nacht zu blicken?
    Peter wendet sich vom Fenster ab. Wenn das eine Art Offenbarung sein sollte, hat es nicht funktioniert.
    Und dann, vielleicht weil er keine Offenbarung hatte, auch wenn er endlich den traurig wirkenden Mann auf der anderen Straßenseite gesehen hat (es ist nicht Peters älteres Ich, so schön geordnet ist das alles nicht), geht er zur Tür von Missys Zimmer und drückt sie leise, ganz leise auf.
    Wie verrückt ist das?
    Nicht komplett verrückt. Wenn Rebecca aufwacht, gibt es hundert Gründe, dass er in Missys Zimmer ist. Ich habe ihn stöhnen gehört, ich dachte, er wäre vielleicht krank, war aber bloß ein Alptraum, alle können wieder schlafen gehen.
    Die Tür schwingt lautlos auf, sie ist zu dünn, um zu knarren. Drinnen: Missys ruhiger Atem und sein Geruch, Letzterer die inzwischen vertraute Mischung

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