In einer anderen Welt (German Edition)
Namen sagen sollte, denn sie schauten mich beide erwartungsvoll an, aber meine Zunge saß mir im Mund fest, und ich brachte keinen Ton heraus. »Mori«, hauchte ich schließlich. »Meine Freunde sagen Mori zu mir.«
Dann trafen noch zwei Leute ein, beides Männer über dreißig, aber der eine groß (Brian) und der andere klein und stämmig (Keith). Greg holte seinen Schlüssel hervor und öffnete einen Raum im hinteren Teil der Bibliothek.
Die Bibliothek muss vor etwa hundert Jahren erbaut worden sein, im viktorianischen Stil, mit gemauerten Fenstern in Backsteinwänden. Der Raum, in dem das Treffen stattfindet, war einmal ein Lesesaal, doch der befindet sich inzwischen in der Präsenzbibliothek ein Stock höher, und dieser Raum bleibt verschlossen. Er ist bis etwa Ellenbogenhöhe mit Holz vertäfelt, und darüber zwischen den Fenstern beige gestrichen – auf der einen Seite hat es viele Fenster, aber ich konnte nicht rausschauen, weil es dunkel war. An der anderen langen Wand hängt ein riesiges düsteres viktorianisches Gemälde, auf dem Leute in einer Bibliothek sitzen und lesen, einer hinter dem anderen, an kleinen Tischen zwischen Bücherregalen. Der Raum selbst ist überhaupt nicht so – da steht ein großer alter Tisch in der Mitte mit alten Holzstühlen drumherum. An den beiden Enden des rechteckigen Raumes entdeckte ich zwei Büsten, eine von Descartes, den ich nicht kenne, der aber ein beeindruckendes Gesicht hat, und die andere von Plato. Yeah!
Ich setzte mich dem Bild gegenüber an den Tisch, den Rücken dem Fenster zugewandt, und Miss Carroll setzte sich neben mich. Die Männer, die sich natürlich kannten, standen beieinander und unterhielten sich. Weitere Männer kamen herein, manche von ihnen jünger, aber keiner unter dreißig. Dann folgten zwei Jungen in den Schulblazern der örtlichen Gesamtschule. Ich schätzte sie auf sechzehn oder siebzehn. Allmählich glaubte ich schon, dass wir die einzigen Frauen sein würden, als eine stämmige grauhaarige Frau den Raum betrat und sich an das Kopfende des Tisches setzte. Sie hatte einen großen Stapel gebundener Bücher dabei, alle von Le Guin, und die legte sie äußerst geschäftsmäßig neben sich auf den Tisch. Als die anderen das sahen, suchten sie sich ebenfalls einen Platz. Ich wünschte mir, ich hätte meine Bücher mitgebracht, aber die waren natürlich alle bei meiner Mutter, außer Die zwölf Striche der Windrose . Aber Bücher kann man ersetzen.
Miss Carroll betrachtete den Bücherstapel und sah mich ein wenig nervös an. »Hast du die alle gelesen?«, fragte sie leise.
Ich schaute noch einmal genauer hin, und ja, ich hatte sie alle gelesen, bis auf eines mit dem Titel The Eye of the Heron . »Alle außer einem«, erwiderte ich. »Und ich habe noch eins gelesen, das nicht dabei ist, Das Wort für Welt ist Wald .«
»Du liest wirklich eine Menge Science Fiction«, sagte sie.
Da holte die grauhaarige Frau tief Luft, als wollte sie anfangen, und in dem Moment ging die Tür auf, und ein Junge – ein junger Mann – kam hereingestürzt. Jemand so umwerfend Schönes habe ich noch nie gesehen! Er hatte langes blondes Haar, tiefblaue Augen und einen leidenschaftlichen, durchdringenden Blick, was ich jedoch nicht sofort bemerkte. Und er bewegte sich mit beiläufiger Eleganz, selbst als er fast über seine eigenen Füße stolperte. »Entschuldige, dass ich zu spät komme, Harriet«, sagte er und schenkte der Frau ein strahlendes Lächeln. »Ich hatte einen Platten.«
Wie konnten die Götter nur zulassen, dass ein so herrliches Geschöpf mit dem Fahrrad fahren muss! Er setzte sich mir direkt gegenüber, so nahe, dass ich sehen konnte, wie die Regentropfen über sein Haar perlten. Er dürfte achtzehn oder neunzehn sein. Warum er wohl nicht auf der Universität ist? Er gleicht einem Löwen oder Alexander dem Großen.
»Ich wollte gerade anfangen, aber du bist nicht zu spät«, sagte Harriet und erwiderte sein Lächeln. (Harriet! Ich kenne sonst niemanden, der Harriet heißt. Für einen Augenblick stellte ich mir vor, sie wäre Harriet Vane, denn dafür ist sie ungefähr im richtigen Alter, nur dass man Harriet Vane mit Lady Peter ansprechen müsste, und außerdem ist sie eine erfundene Figur. Ich kenne den Unterschied, wirklich.)
Die Tür krachte erneut auf, und ein Mädchen im Teenageralter kam herein. Sie trug einen violetten Blazer, was zu ihren fuchsroten Haaren absolut furchtbar aussah. Sie setzte sich zwischen die beiden Jungen im Blazer,
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