In einer Familie
vergaß – »aber ich denke, daß die Kunst, wenn
sie nämlich überhaupt irgend etwas ›soll‹, es sich zur
al erersten Aufgabe machen muß, die übersinnlichen
Vorstellungen, die für das Kulturleben unentbehr-
lich sind und bleiben, zu unterhalten.«
Mochte Anna dadurch, daß sie in jenem kurzen
Augenblick die Wirkung der von ihr kritisierten
Vorstellungen, durch die Erzählung ihres Verlobten
hervorgerufen, in dem Auge der ihr verhaßten Frau
73
gesehen, erregt sein: der Klang ihrer Stimme war in
ihrer neuen Antwort noch härter als vorher, und es
mischte sich sogar etwas wie Spott hinein.
»Ach! Du bist also Reaktionär?«
»Wenn’s nur gut gemalt ist!« Der Major ver-
suchte, durch eine Wiederholung dieses Lenbach-
schen Wortes das Gespräch, welches in gefährliche
Bahnen zu laufen schien, zurückzulenken. Die bei-
den jungen Leute drohten auf eine unheimliche
Weise, politisch zu werden, was Herr v. Grubeck im-
mer für unnütze Aufregung gehalten hatte. Er selbst
war immer pflichtgemäßer Christ und Monarchist
gewesen, ohne vor einigen dem Liberalismus zu ma-
chenden Zugeständnissen, die er seiner Zeit schuldig
zu sein glaubte, zurückzuschrecken.
Wellkamp seinerseits war in der That »Reaktio-
när«, und zwar in der besonderen Weise, wie diese
Richtung der Gesinnungen neuerdings Leute, wel-
che die mehr verborgenen Zeitströmungen zu füh-
len, seelische Organe besitzen, nach sich zieht. Die
Reaktionäre dieser Art werden häufiger, je mehr in
neuer Zeit der Liberalismus seinen ehemaligen Ruf,
die Partei der Gebildeten zu sein, verliert. Vor dem
Niedergange des Liberalismus nun, seiner Auflö-
sung in die Pöbelherrschaft des Geldes, schrecken
jene feiner organisierten und meist auch ästhetisie-
renden Menschen ebenso heftig zurück, als vor dem
Hereinbrechen der ihre Instinkte nicht weniger ver-
letzenden reellen, handgreiflichen Pöbelherrschaft.
74
Dabei trifft sie, mit ihren Sympathien für eine vor-
nehme, größer gesinnte Zeit, der Fluch der seltsa-
men Ironie, daß ihre aus eben dem Liberalismus, den
sie bekämpfen, hervorgewachsene Bildung ihnen
nicht gestattet, an die Möglichkeit zu glauben, als
würde sich die Welt heute, mit einer willkürlichen
Unterbrechung ihres unvermeidlichen Entwick-
lungsganges, auf einen einmal überwundenen Kul-
turstand zurückführen lassen. So sind sie nichts we-
niger als ursprüngliche, geborene Konservative. Ihr
Verhältnis zu diesen letzteren wird vielmehr da-
durch bezeichnet, daß sie nicht »noch«, sondern
»aufs neue« konservativ sind.
Unter einem ähnlichen inneren Widerspruche lei-
det ihr Verhältnis zur Religion, da sie, ohne selbst
durchaus gläubig zu sein, es für ihre Forderung er-
klären, daß »dem Volke die Religion erhalten
bleibe«. Wenn sie in letzterer allerdings eine erste
und am letzten Ende vielleicht die einzige Stütze der
bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse erblik-
ken, so würden sie es doch andererseits mit Recht
leugnen, aus bloßen Nützlichkeitsrücksichten dem
Volke eine seelische Nahrung bewahren zu wollen,
von der ihnen selbst bekannt wäre, daß sie verfälscht
sei. Wohl werden sie, ihrem Bildungsgange entspre-
chend, mehr oder weniger wissenschaftlich unter-
richtet und überzeugt sein; aber eben die Wissen-
schaft muß sie, je ernster sie ihr Bewußtsein ergriffen
hat, desto eindringlicher daran erinnern, daß ihr
75
selbst die letzten, entscheidenden Fragen immer un-
lösbar bleiben werden. Und unter den Vermutungen,
mit welchen diese einzig beantwortet werden kön-
nen, ist die religiöse, zu welcher sie auf solche Weise
zurückkehren, eine so schöne und für die Mehrzahl
der Menschen befriedigende. Vielleicht auch, daß
viele von ihnen es zuerst an sich selbst erfahren, wie
sehr das von der Zeit niemals abgeschwächte Be-
dürfnis der Seele nach den Vorstellungen und Hoff-
nungen verlangt, welche die Religion verleiht.
Wellkamp hatte sich über alles dies niemals aus-
drücklich Rechenschaft abgelegt. Er hatte selbst
keine Ahnung, wie stark er innerlich an den von
Anna berührten Gegenständen interessiert war, und
so mußte ihn der Eifer, mit dem er auf ihre heraus-
fordernden Bemerkungen einging, selbst überra-
schen. Doch vermochte er das junge Mädchen durch
ein Andeuten seiner Absichten jetzt nicht zu einer
weiteren Darlegung der ihrigen zu veranlassen. Es
schien ihm, daß sie ihm eine Erläuterung in
Weitere Kostenlose Bücher