In einer Familie
Abwe-
senheit von Zeugen zu geben wünschte. Mit ihren
Gedanken beschäftigt, ließen die beiden jungen
Leute während des Restes der Tafel den Major fast
allein das Gespräch unterhalten. Während er und
seine Gattin sich nach Beendigung der Mahlzeit in
ihre Zimmer zurückzogen, begaben sich Anna und
Wel kamp in stil em Einverständnisse gemeinsam in
den, Doras Boudoir gegenüber, auf der andern Seite
des Speisezimmers gelegenen kleinen Salon, Annas
76
gewöhnlichen Aufenthalt, wo sie sich ungestört
über ihr Verhältnis zu den angeregten Fragen ver-
ständigen konnten. Der Major kam noch einmal
herüber, um sich zu erkundigen, ob man nicht eine
Tasse Thee nähme. Als diese abgelehnt ward, ent-
fernte sich der alte Herr, dem es schließlich bei dem
Charakter seiner Tochter unumgänglich dünken
mochte, gelegentlich die Geister aufeinanderplatzen
zu sehen.
Der Vater besaß, wie in den meisten ähnlichen
Fällen, mehr Verständnis für die Art seines Kindes,
als dieses selbst ihm zuschrieb. Er ahnte wohl, daß
die Ruhe und Abgeschlossenheit, welche das Wesen
der Tochter trotz ihrer großen Jugend kennzeich-
nete, mit den außerordentlich festen Meinungen, die
sie sich über gewisse Dinge gebildet, verknüpft war.
Wovon er dagegen nicht wußte, waren die schweren,
stillen Kämpfe, unter denen jene Ruhe erworben
war.
Anna war damals zur Welt gekommen, als die
junge Frau, welche ihr Gatte schon jetzt zu vernach-
lässigen begonnen hatte, still und bitter die ersten
Leiden ihrer immer freudloser werdenden Ehe
durchlebte. Es war, als sei von jener Stimmung der
Mutter etwas in das Wesen des Kindes übergegan-
gen. Es suchte später in dem heranwachsenden Mäd-
chen, das die Krankheit der Mutter sich steigern und
steigern sah, ein dumpfes Gefühl nach seinem Aus-
druck, welches den Vater beschuldigte – wessen
77
doch? Wenn sich dann das Herz, das den gütigen
und frohen Vater liebte, gegen solche Pietätlosigkeit
empörte, so ergaben sich aus diesem ersten Wider-
spruch ihrer Natur die ersten Kämpfe. Dann starb
die blasse Frau, an deren Lager Anna fast ein Jahr
lang den größten Teil ihrer Tage zugebracht, und zu
dem Schmerz über diesen trotz der langsamen Vor-
bereitung ungeahnt und unbegreiflich schrecklichen
Verlust gesellte sich der für die Zurückgebliebene
nicht weniger empfindliche, die innige religiöse
Überzeugung, welche das teuerste Erbteil von der
Verstorbenen bildete, den jetzigen Prüfungen nicht
standhalten zu fühlen.
Letztere hatten, mit dem schmerzlichen Nach-
denken, das sie erregten, zweifellos in hervorragen-
dem Maße auch die seelische Entwickelung des jun-
gen Mädchens begünstigt, welches jetzt kaum erst
achtzehn Jahre zahlte. Es war ihr, ohne daß der Va-
ter, den eine Art Scham davon zurückhielt, ihr dar-
über Erklärungen gegeben hätte, deutlich, daß die
schwierigen häuslichen Verhältnisse ihr künftig
eigene Arbeit notwendig machen würden, und sie
begann sich alsbald auf eine geeignete Thätigkeit in
aller Stille vorzubereiten. Ihr Vater ließ sie, erfreut
über ihre verständige Schickung in die unvorherge-
sehene Lage, den Weg betreten, welcher sie schnell
weiter und weiter von den Grundbedingungen sei-
ner eigenen Anschauungen entfernen sollte. Von der
pädagogischen und philosophischen Litteratur, wel-
78
che sie anfänglich zu ihrer wissenschaftlichen Aus-
bildung gewählt, geriet sie, infolge textlicher Hin-
weise, welche sie darauf aufmerksam machten, und
durch eine seltsame, ahnungsvolle Neugierde gelei-
tet, an die Lektüre volkswissenschaftlicher, sozia-
listischer Schriften. Ganz natürlich stießen die Auf-
fassungen, welche sie dort antraf, und welche, mit
der Begeisterungsfähigkeit und idealistischen Ge-
rechtigkeitsliebe eines jugendlichen Geistes kennen
gelernt, ohne weiteres bereits so viel Verführerisches
in sich schließen, in dem Gemüte des jungen Mäd-
chens auf einen besonders günstig vorbereiteten Bo-
den. Gleich unzähligen Mühseligen und Beladenen
von heute nahm sie mit allem Vermögen ihres Gei-
stes und ihrer Empfindung die neue, weltliche Reli-
gion in sich auf.
Es waren nun zwei Jahre, daß auf solche Weise der
seelische Zwiespalt jener Zeit in ihr ausgeglichen
war, die sie jetzt selbst als Übergangsjahre ansah,
und das junge Mädchen schrieb sich seither in ihrem
ganzen Wesen die Abgeschlossenheit zu, die ein un-
verrückbares inneres Ziel verleiht, dem
Weitere Kostenlose Bücher