In einer Familie
sie
auf ihn zu wirken begonnen, ohne gleichen und viel-
leicht unersetzlich dasteht. Was sie peinigt, ist der
Zweifel, ob nicht Andere vor ihr ihm ganz das glei-
che gewesen, sein Leben genau so ausgefüllt haben,
wie sie es jetzt thut. Sie leidet unter dem »zu spät«,
da sie dem Manne nicht früh genug begegnet, um
ihm die Erste und Einzige zu sein. In dem Maße, wie
dieses Ideal, »die Einzige zu sein«, welches al ein das
ungeheure Opfer, das sie gebracht, in ihren Augen
rechtfertigen könnte, ihr zu verblassen scheint, neh-
men Reue und Skrupel zu, die im natürlichen Ge-
folge ihrer That sind. Dora war zu lange eine anstän-
dige Frau gewesen, um nicht in ihrem jetzigen
Zustande die volle Gewalt ihrer momentan von der
Leidenschaft betäubten bürgerlichen und religiösen
Instinkte empfinden zu müssen. Die besonderen
Umstände, welche ihre Schuld erschweren konnten,
kamen hinzu. Sie hatte nicht nur gesündigt wie eine
208
Andere, sie hatte es im eigenen Hause gethan und in
der Familie. Ihre Schmach erschien ihr so ungeheu-
erlich, daß sie der Verachtung ihres Mitschuldigen
gewiß war, über den es sie zu herrschen verlangte.
Und wie es stets in diesen traurigen Verhältnissen zu
gehen pflegt, beantwortete sie seine vorausgesetzte
Verachtung mit ihrem Hasse. Alles mündete für sie
in diesen schlimmen Haß aus, der mehr als das, dem
er gilt, das Herz verwundet, von welchem er aus-
geht, weil neben ihm noch immer die nie völlig be-
siegte Liebe darin schlägt.
Das nächste war, daß die überhand nehmenden
Bedenken und Wirrungen ihres Gefühls sie nun
wirklich die Sicherheit verlieren ließen, mit der sie
den Geliebten bisher zu leiten, seine Instinkte zu
treffen und zu herrschen verstanden. Dieses Gefühl
hatte ihr bisher verraten, was so viele Frauen verken-
nen, daß es in der Liebe einen geheimen Ressort
giebt, aus welchem sie ihre beste Nahrung zieht, und
der verschiedener Art, aber stets unantastbar, unaus-
sprechlich ist, weil er zu zart, vielleicht zu übersinn-
lich, um durch eine menschliche Geste, ein mensch-
liches Wort unvergröbert oder unvernichtet zu
bleiben. Jene Frauen wissen nicht, daß es Stellen in
dem Drama, das zwei Liebende zusammen auffüh-
ren, gibt, an denen Schweigen die einzig gestattete
Sprache ist. Dora wußte es nicht; sie hatte es nur ge-
fühlt, und keine Spekulation vermag das einmal ver-
lorene Gefühl zu ersetzen. Dies sollte sich gelegent-
209
lich eines äußerlich unscheinbaren Vorfalles zeigen,
der beiden Beteiligten in schmerzlichster Weise die
Erkenntnis der Veränderungen aufdrängte, denen
ihre Verbindung während ihrer so kurzen Dauer
ausgesetzt gewesen, indes sie Beide mit der Einsei-
tigkeit der Leidenschaft den wahren und unwandel-
baren Sinn ihres Daseins darin gefunden zu haben
geglaubt.
Eines Morgens, als er zur gewohnten Zeit Dora in
ihrem Boudoir aufsuchte, ward Wel kamp durch den
Empfang überrascht, den er kaum noch so günstig
zu finden gewohnt war. Sie hatten sich während der
letzten Tage mehr als je in der ohne sichtbaren
Grund gereizten Stimmung befunden, die sich da-
durch maßlos verschlimmert hatte, daß Jeder von ih-
nen bemüht war, sie dem Andern zu verheimlichen.
So fand Wellkamp sich schwer in diese Herzlichkeit,
welche an ihr allererstes Glück erinnerte und noch
durch eine Weichheit und Hingebung verschönt
ward, die er selbst damals selten genug an Dora
wahrgenommen. Sie küßte ihm die Falten von der
Stirne, während seine Schläfen das zärtliche Schmei-
cheln ihres weichen Haares empfanden. Warum
konnte er dennoch ein Gefühl des Unbehagens, bei-
nahe der ungewissen Furcht nicht unterdrücken? Er
war versucht, sich ihrer Liebkosungen zu erwehren,
doch wagte er es nicht, bis er sie plötzlich mit einer
Stimme, die tiefer als gewöhnlich und zugleich wie
bedeutend und geheimnisvoll klang, fragen hörte:
210
»Sag’ mir, hast Du das Stückchen Holz, das kleine
bunte Götzenbild, das ich Dir damals gab, Du weißt,
an Deinem Hochzeitstage – gut aufgehoben?«
Er besann sich einen Augenblick unter dem, er
wußte nicht warum, peinlichen Eindruck, den ihre
Worte auf ihn machten.
»Ja, gewiß – wie Alles, was von Dir kommt, mein
Kind,« sagte er endlich, um den ihm unerklärlichen
Unwillen, den er nicht ganz verbergen konnte, ver-
gessen zu machen.
»Das ist gut«, fuhr sie hastig fort, unter einer in-
nern Erregung, die auf ihren blassen Wangen
Weitere Kostenlose Bücher