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In einer Familie

In einer Familie

Titel: In einer Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Mann
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nach Räcknitz
    führte. Erst hier mäßigte er seinen Schritt. Auf der
    hochgelegenen Straße, von der er einen offenen
    Überblick über die Stadt auf die dahinter sich entlang
    ziehenden Höhen gewann, fand er die Luft freier. Der
    Schnee, der ringsumher in der ruhig heitern Winter-
    sonne erglänzte, war seinem so lange an Halbdunkel
    gewöhnten Auge Offenbarung und Erlösung. Die
    Flocken, welche in der windstil en Luft langsam und
    weich gegen sein Gesicht fielen, bereiteten ihm Lieb-
    kosungen, die er angenehmer fand als jene Schuldi-
    gen, denen er sich soeben entzogen. Und die Kälte,
    die seine Haut leise und erfrischend brannte, ließ eine
    leichte Röte in sein Gesicht steigen, die er fühlte, und
    die ihm eine Idee von Gesundheit gab. Wirklich bes-
    serte sich hier sein Zustand; er ward ruhiger, und statt
    jener halb fieberhaften Vision zeigten ihm jetzt or-
    dentlich einander folgende Überlegungen seine Lage.
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    Der Fatalismus, den er, wie die schwachen Na-
    turen in ihren innern Krisen pflegen, noch soeben als
    Stütze gebraucht, hätte ein Schuldgefühl ausschlie-
    ßen müssen. Es ließ sich dennoch nur gewaltsam un-
    terdrücken und drang umso tiefer in das unterhalb
    des Bewußtseins liegende, geheimnisvolle Reich ein,
    um von hier aus die Bewegungen seiner Seele zu lei-
    ten. Durch die Sympathie eben dieses Gefühles
    blickte er nunmehr klarer in Doras Zustand, der
    während der vergangenen Wochen für sie Beide so
    tief unglücklich gewesen war. Er sagte sich nun, daß
    sie durch ihre Erziehung, wie durch die vom Ge-
    schick erhaltene Bildung, besonders aber durch die
    trostlosen, gleichsam toten Verhältnisse, in denen ihr
    Leben endigen zu wollen schien, zu sehr auf völlige
    Ruhe und Gesetzmäßigkeit angewiesen war, daß sie
    weniger als irgend eine Andere im stande sein
    konnte, die Aufregungen, die Verantwortung, die
    Furcht, die Gefahr, die ein außergewöhnlicher
    Schritt mit sich brachte, zu ertragen. Aber wenn sie
    nun gar eine Verantwortung unter den besonderen
    Umständen, wie sie es in Wirklichkeit gethan, auf
    sich nahm: mußte sie nicht unter der Größe der Last
    zu Boden gedrückt und vernichtet werden? Indem
    Wellkamp der Schauer von Furcht, Abscheu und
    Scham gedachte, die ihn selbst noch soeben bei dem
    Gedanken an die geschändete Häuslichkeit, an die
    zerstörte und nur noch auf der Grundlage von
    Schuld und Täuschung fortlebende Familie geschüt-
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    telt, konnte er nichts anderes als das tiefste, rein
    sympathische Mitleid für seine unglückliche Ge-
    liebte fühlen. War sie nicht, von der Schwierigkeit ih-
    rer Natur abgesehen, schon als Weib weniger als er
    den Anforderungen gewachsen, die auf diese Weise
    an ihre Willensstärke gestellt wurden? Trotz jener
    tiefen und rätselhaften Feindlichkeit, welche die
    Grundlage aller ihrer Beziehungen zu sein schien,
    welche bei der ersten Begrüßung vorhanden, in letz-
    ter Zeit mehr als je zu spüren und höchstens durch
    den Rausch der Leidenschaft eine Zeitlang unwirk-
    sam gemacht worden war, trotz jener Feindlichkeit
    kleidete sich in diesem Augenblick, wo er sich den
    Trümmern ihres gemeinsamen Glücks zuwandte,
    sein Gedanke an Dora in kein anderes Wort als das
    »Arme Frau! Arme Frau!«, das er bald leise, bald
    lauter vor sich hin sprach. Was dabei aus ihm redete,
    war ohne Zweifel der Instinkt der Ritterlichkeit, in
    einer schwachen und lenksamen Natur wie der sei-
    nen vielleicht der einzige, letzte Zug der Überlegen-
    heit des Mannes über die Frauen, deren Einfluß er
    unterliegt. Wie würde Dora ihn selbst für diesen Zug
    gehaßt haben, sie, die nicht sein Mitleid, sondern
    seine Unterwerfung begehrte!
    Er war, von diesem Gedanken festgehalten und
    ganz darin verloren, fortgeschritten, ohne darauf zu
    achten, daß der immer tiefer liegende Schnee ihm das
    Gehen mehr und mehr erschwerte. Erst der dichtere
    Flockenwirbel, der sein Gesicht durchnäßte und
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    ihm allmählich die Aussicht benahm, bewog ihn,
    umzukehren. Mit seinem Blick ward sodann auch
    seine Überlegung wieder frei.
    »Ja, aber für all dies Elend, diese unfreie Heim-
    lichkeit und diese Gewissensangst sollte doch ihre
    Liebe reichen Ersatz bieten, sie, deretwegen sie
    Beide das alles auf sich genommen, und die einzig
    durch das, was sie gab, wettzumachen vermochte,
    was sie an Opfern erforderte!«
    Da schrie es in ihm auf bei der so erneuten Vor-
    stellung von dem Vorfall, der ihn heute morgen von
    der Geliebten fortgetrieben, und

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