In einer Familie
nach Räcknitz
führte. Erst hier mäßigte er seinen Schritt. Auf der
hochgelegenen Straße, von der er einen offenen
Überblick über die Stadt auf die dahinter sich entlang
ziehenden Höhen gewann, fand er die Luft freier. Der
Schnee, der ringsumher in der ruhig heitern Winter-
sonne erglänzte, war seinem so lange an Halbdunkel
gewöhnten Auge Offenbarung und Erlösung. Die
Flocken, welche in der windstil en Luft langsam und
weich gegen sein Gesicht fielen, bereiteten ihm Lieb-
kosungen, die er angenehmer fand als jene Schuldi-
gen, denen er sich soeben entzogen. Und die Kälte,
die seine Haut leise und erfrischend brannte, ließ eine
leichte Röte in sein Gesicht steigen, die er fühlte, und
die ihm eine Idee von Gesundheit gab. Wirklich bes-
serte sich hier sein Zustand; er ward ruhiger, und statt
jener halb fieberhaften Vision zeigten ihm jetzt or-
dentlich einander folgende Überlegungen seine Lage.
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Der Fatalismus, den er, wie die schwachen Na-
turen in ihren innern Krisen pflegen, noch soeben als
Stütze gebraucht, hätte ein Schuldgefühl ausschlie-
ßen müssen. Es ließ sich dennoch nur gewaltsam un-
terdrücken und drang umso tiefer in das unterhalb
des Bewußtseins liegende, geheimnisvolle Reich ein,
um von hier aus die Bewegungen seiner Seele zu lei-
ten. Durch die Sympathie eben dieses Gefühles
blickte er nunmehr klarer in Doras Zustand, der
während der vergangenen Wochen für sie Beide so
tief unglücklich gewesen war. Er sagte sich nun, daß
sie durch ihre Erziehung, wie durch die vom Ge-
schick erhaltene Bildung, besonders aber durch die
trostlosen, gleichsam toten Verhältnisse, in denen ihr
Leben endigen zu wollen schien, zu sehr auf völlige
Ruhe und Gesetzmäßigkeit angewiesen war, daß sie
weniger als irgend eine Andere im stande sein
konnte, die Aufregungen, die Verantwortung, die
Furcht, die Gefahr, die ein außergewöhnlicher
Schritt mit sich brachte, zu ertragen. Aber wenn sie
nun gar eine Verantwortung unter den besonderen
Umständen, wie sie es in Wirklichkeit gethan, auf
sich nahm: mußte sie nicht unter der Größe der Last
zu Boden gedrückt und vernichtet werden? Indem
Wellkamp der Schauer von Furcht, Abscheu und
Scham gedachte, die ihn selbst noch soeben bei dem
Gedanken an die geschändete Häuslichkeit, an die
zerstörte und nur noch auf der Grundlage von
Schuld und Täuschung fortlebende Familie geschüt-
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telt, konnte er nichts anderes als das tiefste, rein
sympathische Mitleid für seine unglückliche Ge-
liebte fühlen. War sie nicht, von der Schwierigkeit ih-
rer Natur abgesehen, schon als Weib weniger als er
den Anforderungen gewachsen, die auf diese Weise
an ihre Willensstärke gestellt wurden? Trotz jener
tiefen und rätselhaften Feindlichkeit, welche die
Grundlage aller ihrer Beziehungen zu sein schien,
welche bei der ersten Begrüßung vorhanden, in letz-
ter Zeit mehr als je zu spüren und höchstens durch
den Rausch der Leidenschaft eine Zeitlang unwirk-
sam gemacht worden war, trotz jener Feindlichkeit
kleidete sich in diesem Augenblick, wo er sich den
Trümmern ihres gemeinsamen Glücks zuwandte,
sein Gedanke an Dora in kein anderes Wort als das
»Arme Frau! Arme Frau!«, das er bald leise, bald
lauter vor sich hin sprach. Was dabei aus ihm redete,
war ohne Zweifel der Instinkt der Ritterlichkeit, in
einer schwachen und lenksamen Natur wie der sei-
nen vielleicht der einzige, letzte Zug der Überlegen-
heit des Mannes über die Frauen, deren Einfluß er
unterliegt. Wie würde Dora ihn selbst für diesen Zug
gehaßt haben, sie, die nicht sein Mitleid, sondern
seine Unterwerfung begehrte!
Er war, von diesem Gedanken festgehalten und
ganz darin verloren, fortgeschritten, ohne darauf zu
achten, daß der immer tiefer liegende Schnee ihm das
Gehen mehr und mehr erschwerte. Erst der dichtere
Flockenwirbel, der sein Gesicht durchnäßte und
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ihm allmählich die Aussicht benahm, bewog ihn,
umzukehren. Mit seinem Blick ward sodann auch
seine Überlegung wieder frei.
»Ja, aber für all dies Elend, diese unfreie Heim-
lichkeit und diese Gewissensangst sollte doch ihre
Liebe reichen Ersatz bieten, sie, deretwegen sie
Beide das alles auf sich genommen, und die einzig
durch das, was sie gab, wettzumachen vermochte,
was sie an Opfern erforderte!«
Da schrie es in ihm auf bei der so erneuten Vor-
stellung von dem Vorfall, der ihn heute morgen von
der Geliebten fortgetrieben, und
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