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In einer Familie

In einer Familie

Titel: In einer Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Mann
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zwei
    rote Flecke hervortreten ließ.
    »Es liegt mir so viel daran, weil – weil –« Sie
    wühlte in den Falten ihres Kleides, aus welchem sie
    ein grotesk bemaltes Stück Holz hervorzog, das
    Wel kamp ähnlich dem in seinem Besitz befindlichen
    erkannte. »– weil ich selbst ein ebensolches be-
    wahre«, vol endete sie dann. »Es ist ein Talisman, der
    uns zusammenhält, so lange Jeder von uns sein Teil
    besitzt. Eine alte Negerin, drüben bei uns, hat ihn
    mir gegeben. Ach, Du glaubst nicht, wie kindisch
    abergläubisch ich bin.«
    Auf diese letzten, in heftigem Flüstertone sich
    überstürzenden Worte folgte wieder jenes leis klir-
    rende Lachen, das Wellkamp so gut kannte. Viel-
    leicht erwartete sie, daß er ihr wie früher mit einem
    Kusse die Lippen schließen würde. Er aber ver-
    mochte plötzlich ihren Atem, welcher sein Gesicht,
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    dem sie ihren Mund so nahe gebracht, umspielte,
    nicht mehr zu ertragen. Die Berührung ihrer fieber-
    heißen Hände war ihm unleidlich. Unfähig, seinen
    Widerwillen zu verbergen, erhob er sich. Es gab
    zwischen ihnen ein langes Schweigen, während des-
    sen ihr verwirrter Blick, in dem sich wie eine kleine
    Schlange ein feindliches Aufleuchten zeigte, nicht
    von seiner Gestalt wich. Er warf kaum noch einige
    gleichgiltige Bemerkungen hin, die sie unbeantwor-
    tet ließ. Dann sah sie ihm, nun mit einem Ausdruck
    wahren, tiefen Schmerzes nach, bis der Thürvorhang
    hinter ihm zusammenfiel.
    Was sie auch von dem Unglück, das für den Mann
    wie für sie selbst das soeben Vorgefallene bedeutete,
    ahnen mochte, so stellte sie sich doch kaum vor, wie
    tief Wel kamp in Wirklichkeit davon berührt war. Es
    kann nur ein ausnahmsweise starker Eindruck sein,
    der Naturen wie die seine, wenig naiv und gewohnt,
    Erlebnisse und Gefühle unmittelbar zu zergliedern,
    in dem Grade betäubt, daß sie für Augenblicke ohne
    die gewohnte Rechenschaft von sich selbst bleiben.
    In der That war Wel kamp, ohne einen Gedanken zu
    fassen, in sein Zimmer gegangen, wo er zufällig vor
    den Spiegel getreten, zum erstenmal sein mattes, von
    Zimmerluft, Mangel an körperlicher Bewegung, zu
    viel innerer Unruhe und Leidenschaft gebleichtes
    Gesicht aufmerksam betrachtete. Es fiel ihm ein, daß
    er seit Wochen kaum anders als zu den nötigsten
    Ausgängen den Fuß vors Haus gesetzt, und sogleich
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    erfaßte ihn ein jäher Abscheu vor der eingeschlosse-
    nen, unfreien, von ungesunden und verbrecherischen
    Leidenschaften durchseuchten Existenz, die er schon
    so lange führte. Eine dieser plötzlichen Visionen, in
    denen unser Schicksal sich uns grausamerweise zu-
    meist erst dann zu offenbaren pflegt, wenn wir be-
    reits zu fest gekettet sind, um noch eine freie Bewe-
    gung zu haben, zeigte ihm mit aller Deutlichkeit die
    Einflüsse, die der enge Kreis, in welchem er sich be-
    wegte, auf die Gestaltung seines Geschicks gewon-
    nen, und die er bisher höchstens unklar geahnt. In
    diesem Augenblicke schrieb er ohne Bedenken den
    vier Wänden, in die er mit den drei, immer den drei
    selben Menschen zusammen eingeschlossen gewe-
    sen, die Verantwortung für alles Geschehene zu. Er
    hatte eine bestimmte Idee davon, daß das Problema-
    tische, das Unsichere und Zerstörende seiner Natur,
    das ehemals auf seinem flüchtigen Wanderleben nur
    hier und da zerstreute Spuren zurückgelassen hatte,
    in der nunmehrigen engen und unvergänglichen Be-
    grenzung seiner Existenz ganz andere, furchtbare
    Wirkungen hatte hervorbringen müssen. Der Zer-
    streuungen und Ablenkungen seiner früheren weiten
    und wechselnden Beziehungen beraubt, hatte seine
    Natur, ohne Ausweg aus dem geschlossenen Kreise
    einer Familie, gleich Sprengstoff zu wirken begon-
    nen. Nun stand er vor der Katastrophe.
    Diese Vorstellung vollendete es, ihm den Aufent-
    halt in den verhaßten vier Wänden unerträglich zu
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    machen. In seiner Lage schien es ihm, als ob freie Luft
    und Bewegung da draußen ein Heilmittel für Alles
    sein müßten. Vor der Thüre stand er eine Zeitlang,
    ohne den Pelz zu schließen, um den frischen Wind
    besser gegen seine so lange nur mit eingeschlossener
    Luft gespeiste Brust wehen zu lassen. Die Straße
    hinab in die innere Stadt zu gehen, scheute er sich. Es
    sollte recht weit, recht frei um ihn her sein, damit in
    der Größe und Allgemeinheit der Natur sein Einzel-
    leid und seine Einzelschuld unbemerkt untergehen
    konnten. So schlug er den Weg ein, der ihn von der
    Stadt entfernte und bald auf die Straße

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