In einer Familie
und
der verderbten Liebkosungen, in der sich jetzt diese
Leidenschaft ausdrückte, die sie Beide einst – wie
lange war es doch her? – als das unverdiente Glück,
als den endlichen Inhalt ihres Lebens begrüßt hat-
ten.
Und da in diesen unwürdigen Verhältnissen, in
dem Grade, wie die gegenseitige Achtung sich
verliert, Alles der Brutalität und der Maßlosigkeit
verfällt, so war es bald auch der Haß, der sich zu er-
schreckenden Ausschweifungen steigerte. Sie trach-
teten danach, sich gegenseitig wehe zu thun, mit
Worten, wie körperlich; sie schienen von der Gier
223
beherrscht zu sein, als solle keine Stelle an ihrem
Leibe und an ihrer Seele unverletzt bleiben. Das
Schlimmste war vielleicht, daß diese Überanstren-
gung ihrer Leidenschaften sie nahezu unfähig
machte, sie in Gegenwart der Andern zurückzuhal-
ten. Sie waren manchmal nahe daran, jede Verstel-
lung aufzugeben, ja, sich letztere gegenseitig als Ver-
brechen anzurechnen. Es kam vor, daß Eines von
ihnen, während es an der Familientafel ein gleichgil-
tiges Wort mit Anna oder Herrn v. Grubeck wech-
selte, einen Blick des Andern auffing, in dem mit
aller Deutlichkeit einer verzweifelten Wut ausge-
sprochen lag:
»Du kannst heucheln? Bist Du es nicht, der mich
mißhandelt und zerstört hat?«
Wellkamp kämpfte bei solcher Gelegenheit mit
dem Bedürfnisse, ihr irgend eine unflätige Beleidi-
gung ins Gesicht zu schleudern, die sie vor al er Welt
bloßstellen sollte, diese »Dirne«. Er nannte sie nicht
mehr anders, laut ihr ins Gesicht, wie leise bei sich
selbst. Und in den Stunden der Selbstbetrachtung,
welche trotz allem nicht ausblieben, mußte er sich
gestehen, daß er selbst dieser »Dirnenliebe« würdig
sei.
Sie waren die al ergrausamsten, diese Stunden der
nüchternen Besinnung, weil sie ihn zwangen, das Er-
gebnis, das er im Taumel des Augenblicks nur zu
gern vergaß, zu ziehen aus dem, was seine Seele aus-
gefül t und sein Leben ausgemacht seit langer, langer
224
Zeit, wie es ihm vorkam: in Wirklichkeit aber seit
kaum einem halben Jahre.
In der Einsamkeit seines Zimmers strich er sich in
solchen Gedanken mit der Hand über die Stirn, mit
einer Bewegung, als fürchtete er, verrückt zu wer-
den.
»Wie hatte es sein können? Wie war das Alles in
der Schnelligkeit über ihn gekommen?«
Er kam dann wieder auf die unheimliche, dumpfe
Ahnung zurück, die ihn wirr und erschreckt die
Wände ringsumher anstarren machte. Es war das
Haus, der geschlossene Kreis der Familie, in dem,
wie in einem Treibhause, alles unnatürlich früh reif
geworden war, schneller als unter andern Umstän-
den, und ehe er zur Besinnung zu gelangen ver-
mochte. Das Ergebnis, das er nun hielt, war jener
Kampf, der immer die äußerste Entwickelung eines
Verhältnisses dieser Art bezeichnet, ein Vernich-
tungskampf voll Haß und Verachtung, der den bei-
den Unglücklichen jede Entschädigung im Genuß
versagte; in dem es nicht einmal die endliche Er-
schöpfung zu geben schien, und noch weniger das,
was jedem Kampfe Schönheit und Größe verleihen
kann, einen Sieger.
Trotz der Schrecklichkeit dieser Vorstellung hielt
er sie fest, klammerte er sich an sie, da sie immer
noch leidlicher war als das Zurückgehen in die erste
Zeit seiner Annäherung an Dora. Was war es denn
im Grunde gewesen, was dem jetzigen tollen
225
Kampfe vorausgegangen war und mit ihm zusam-
men die ganze Dauer dieser »Liebe« ausgefüllt hatte,
so daß einige arme Stunden eines nur der Täuschung
verdankten Glückes dazwischen verschwanden, er-
drückt wurden. Er war in seiner wütenden Scham
über die so unverhoffte und vollständige Enttäu-
schung seines idealen Verlangens dahin gelangt, die
ursprünglichen höheren und edleren Motive seiner
Liebe zu Dora ganz zu leugnen. Was war’s gewesen?
Die zweieinhalb Monate seines Verlobtenstandes
hatte er bereits so gut wie völlig im Kreise der Fami-
lie verbracht. Die ständige Gesellschaft seiner Braut
hatte ihn in Flammen versetzt. Aber vor der natür-
lichen, keuschen Strenge des jungen Mädchens zu-
rückweichend, hatte er sein Feuer dorthin getragen,
wo er fühlte, daß es einen bessern Empfang finden
werde.
Diese brutale und grausame Erklärung hatte das
Gute, ein Gefühl zum Ausbruch zu treiben, das er
bislang meistens nur zu gut von allen seinen Selbst-
betrachtungen ausgeschlossen. Hatte er so seine
Handlungsweise noch unendlich erniedrigt und
Weitere Kostenlose Bücher