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In einer Familie

In einer Familie

Titel: In einer Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Mann
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und
    der verderbten Liebkosungen, in der sich jetzt diese
    Leidenschaft ausdrückte, die sie Beide einst – wie
    lange war es doch her? – als das unverdiente Glück,
    als den endlichen Inhalt ihres Lebens begrüßt hat-
    ten.
    Und da in diesen unwürdigen Verhältnissen, in
    dem Grade, wie die gegenseitige Achtung sich
    verliert, Alles der Brutalität und der Maßlosigkeit
    verfällt, so war es bald auch der Haß, der sich zu er-
    schreckenden Ausschweifungen steigerte. Sie trach-
    teten danach, sich gegenseitig wehe zu thun, mit
    Worten, wie körperlich; sie schienen von der Gier
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    beherrscht zu sein, als solle keine Stelle an ihrem
    Leibe und an ihrer Seele unverletzt bleiben. Das
    Schlimmste war vielleicht, daß diese Überanstren-
    gung ihrer Leidenschaften sie nahezu unfähig
    machte, sie in Gegenwart der Andern zurückzuhal-
    ten. Sie waren manchmal nahe daran, jede Verstel-
    lung aufzugeben, ja, sich letztere gegenseitig als Ver-
    brechen anzurechnen. Es kam vor, daß Eines von
    ihnen, während es an der Familientafel ein gleichgil-
    tiges Wort mit Anna oder Herrn v. Grubeck wech-
    selte, einen Blick des Andern auffing, in dem mit
    aller Deutlichkeit einer verzweifelten Wut ausge-
    sprochen lag:
    »Du kannst heucheln? Bist Du es nicht, der mich
    mißhandelt und zerstört hat?«
    Wellkamp kämpfte bei solcher Gelegenheit mit
    dem Bedürfnisse, ihr irgend eine unflätige Beleidi-
    gung ins Gesicht zu schleudern, die sie vor al er Welt
    bloßstellen sollte, diese »Dirne«. Er nannte sie nicht
    mehr anders, laut ihr ins Gesicht, wie leise bei sich
    selbst. Und in den Stunden der Selbstbetrachtung,
    welche trotz allem nicht ausblieben, mußte er sich
    gestehen, daß er selbst dieser »Dirnenliebe« würdig
    sei.
    Sie waren die al ergrausamsten, diese Stunden der
    nüchternen Besinnung, weil sie ihn zwangen, das Er-
    gebnis, das er im Taumel des Augenblicks nur zu
    gern vergaß, zu ziehen aus dem, was seine Seele aus-
    gefül t und sein Leben ausgemacht seit langer, langer
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    Zeit, wie es ihm vorkam: in Wirklichkeit aber seit
    kaum einem halben Jahre.
    In der Einsamkeit seines Zimmers strich er sich in
    solchen Gedanken mit der Hand über die Stirn, mit
    einer Bewegung, als fürchtete er, verrückt zu wer-
    den.
    »Wie hatte es sein können? Wie war das Alles in
    der Schnelligkeit über ihn gekommen?«
    Er kam dann wieder auf die unheimliche, dumpfe
    Ahnung zurück, die ihn wirr und erschreckt die
    Wände ringsumher anstarren machte. Es war das
    Haus, der geschlossene Kreis der Familie, in dem,
    wie in einem Treibhause, alles unnatürlich früh reif
    geworden war, schneller als unter andern Umstän-
    den, und ehe er zur Besinnung zu gelangen ver-
    mochte. Das Ergebnis, das er nun hielt, war jener
    Kampf, der immer die äußerste Entwickelung eines
    Verhältnisses dieser Art bezeichnet, ein Vernich-
    tungskampf voll Haß und Verachtung, der den bei-
    den Unglücklichen jede Entschädigung im Genuß
    versagte; in dem es nicht einmal die endliche Er-
    schöpfung zu geben schien, und noch weniger das,
    was jedem Kampfe Schönheit und Größe verleihen
    kann, einen Sieger.
    Trotz der Schrecklichkeit dieser Vorstellung hielt
    er sie fest, klammerte er sich an sie, da sie immer
    noch leidlicher war als das Zurückgehen in die erste
    Zeit seiner Annäherung an Dora. Was war es denn
    im Grunde gewesen, was dem jetzigen tollen
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    Kampfe vorausgegangen war und mit ihm zusam-
    men die ganze Dauer dieser »Liebe« ausgefüllt hatte,
    so daß einige arme Stunden eines nur der Täuschung
    verdankten Glückes dazwischen verschwanden, er-
    drückt wurden. Er war in seiner wütenden Scham
    über die so unverhoffte und vollständige Enttäu-
    schung seines idealen Verlangens dahin gelangt, die
    ursprünglichen höheren und edleren Motive seiner
    Liebe zu Dora ganz zu leugnen. Was war’s gewesen?
    Die zweieinhalb Monate seines Verlobtenstandes
    hatte er bereits so gut wie völlig im Kreise der Fami-
    lie verbracht. Die ständige Gesellschaft seiner Braut
    hatte ihn in Flammen versetzt. Aber vor der natür-
    lichen, keuschen Strenge des jungen Mädchens zu-
    rückweichend, hatte er sein Feuer dorthin getragen,
    wo er fühlte, daß es einen bessern Empfang finden
    werde.
    Diese brutale und grausame Erklärung hatte das
    Gute, ein Gefühl zum Ausbruch zu treiben, das er
    bislang meistens nur zu gut von allen seinen Selbst-
    betrachtungen ausgeschlossen. Hatte er so seine
    Handlungsweise noch unendlich erniedrigt und

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