In einer Familie
bedenken? Seine Überhebung war begreif-
lich in dieser Stunde, wo sich, von seinem Stolze un-
terstützt, seine ganze Natur aufbäumte gegen das in
mehr als einer Hinsicht unglückliche Joch dieser
Leidenschaft. Wahrhaftig, unter dem Einflüsse der
reinen Winterluft, die seinen Körper erfrischt, seine
Sinne abgekühlt hatte, war es wie der Rausch einer
neuen Kraft über ihn gekommen, die ihn stark ge-
nug machen sollte, alles Vergangene zu verleugnen
und abzuschütteln und unmittelbar von vorn zu be-
ginnen.
Ach! dieser mutige Rausch war sogleich verflo-
gen, als er das Haus wieder betrat, das sein ganzes
Drama enthielt, und dessen gleichmäßig laue Luft
ihm schwerer auf der Brust lastete, als wenn sie eine
Mitwisserin und Verräterin seiner schuldigen Ge-
heimnisse gewesen wäre. Es war nicht der Schritt
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eines Siegers, mit welchem er die Stufen hinan-
schlich, so langsam wie an jenem Abend, der plötz-
lich vor seiner Erinnerung stand, als sie Beide, zum
erstenmale ganz einander gehörig, sich auf der dun-
keln Treppe aneinander drängten. Es ward nicht
besser, als er oben die Räume durchschritt, die alle
unauslöschlich durchtränkt schienen mit dem Atem
seiner Leidenschaft. Wo war ein Winkel, in welchem
er nicht einen verbotenen Gedanken gedacht, einen
schuldigen Blick, eine geheime Liebkosung ausge-
tauscht. Alles ringsumher war lange, so lange zum
Zeugen und zum bösen Gewissen geworden; es war
zu spät, in diesem Kreise, der sich so erstickend fest
um ihn geschlossen, vergessen und erneuern zu wol-
len.
Von Anna, welche in ihrem gemeinsamen Salon
vor dem Kaminfeuer in einem der beiden Sessel saß,
von denen der andere, sein eigener, ihn zu erwarten
schien, drang ein Blick, so mitleidig-stil und beruhi-
gend durch den Nebel von Trostlosigkeit, der ihn
umgab, hindurch, daß seine Seele, wie ein tiefes Auf-
schluchzen, einen Augenblick den heißen Wunsch
fand:
»Wenn es sein könnte!«
Aber er ging vorüber, denn er wußte, »es konnte
nicht sein«.
Auf den soeben erlebten jähen Willensauf-
schwung war unmittelbar die tiefste Niedergeschla-
genheit und Ergebung gefolgt. Er wagte von der Zu-
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kunft nichts mehr zu hoffen und suchte einen ver-
zweifelten Trost darin, Alles gehen zu lassen, wie es
mochte. Als er sich am Abend von Dora verabschie-
dete, that er es, ohne selbst zu wissen, warum? mit
dem Blicke, in dem ihr gewohntes Einverständnis
ausgesprochen war: »Auf morgen!«
Beim Fortgehen aus der Zusammenkunft am näch-
sten Morgen faßte er dennoch den Vorsatz, nicht da-
hin zurückzukehren; bis zu dem Grade hatte ihn der
Zustand, in den das Verhältnis jetzt eingetreten, mit
Widerstreben und Abscheu erfüllt. Er ahnte nicht,
daß sich Dora zur gleichen Zeit dasselbe Verspre-
chen gab. Aber tags darauf fanden sie sich wieder
einander gegenüber.
Was war aber auch aus ihrer Liebe geworden! Die
Hoffnung und sogar jeder Anspruch auf ein see-
lisches Einverständnis, die kostbare Illusion, welche
ihre Vereinigung über das niedere Gebiet der Sinne
hinauszuheben vermocht, einmal ausgeschieden,
blieb nichts als die rein körperliche Anziehung. Der
Fal war so jäh und so tief, daß sie ihn zu Zeiten noch
immer nicht begriffen. Doch bestand der Vorgang
am Ende bloß in einer ziemlich gewöhnlichen Ent-
täuschung. Beide litten sie unter dem exaltierten Be-
dürfnisse, zu lieben, während es Einem wie dem
Andern an der Fähigkeit dazu gebrach; ebenso wie
Jeder von ihnen Fragmente von religiösem Gefühl in
sich trug, ohne die stete Innigkeit des Glaubens zu
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besitzen. Da sie sich also nicht zu ergänzen ver-
mochten, hatten sie sich zu zerstören begonnen.
Zuweilen unterbrachen sie sich Beide zugleich in
einem der wortlos knirschenden Ausbrüche ihrer
Begierde, und ihre Blicke, die sich suchten, befragten
sich gegenseitig mit einer langen, übermäßig trauri-
gen Frage, worauf die Antwort: Nichts, immer
nichts. Von der schrecklichen Furcht vor dem Leeren
rasend gemacht, ließen sie sich dann von neuem wie
in einem Wirbel von ihrer Begierde fortreißen, die, je
mehr sie sie zu befriedigen suchten, nur desto uner-
sättlicher wurde. Es dauerte nicht lange, bis sie zu ih-
rer Stillung zu jenen Mitteln griffen, welche eine
fleischliche Liebe bis zum Äußersten erniedrigen.
Wellkamp mußte in die wildeste Zeit seiner unruhi-
gen Existenz zurückdenken, um ihresgleichen zu
finden für die Sprache der unkeuschen Gesten
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