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In einer Familie

In einer Familie

Titel: In einer Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Mann
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bedenken? Seine Überhebung war begreif-
    lich in dieser Stunde, wo sich, von seinem Stolze un-
    terstützt, seine ganze Natur aufbäumte gegen das in
    mehr als einer Hinsicht unglückliche Joch dieser
    Leidenschaft. Wahrhaftig, unter dem Einflüsse der
    reinen Winterluft, die seinen Körper erfrischt, seine
    Sinne abgekühlt hatte, war es wie der Rausch einer
    neuen Kraft über ihn gekommen, die ihn stark ge-
    nug machen sollte, alles Vergangene zu verleugnen
    und abzuschütteln und unmittelbar von vorn zu be-
    ginnen.
    Ach! dieser mutige Rausch war sogleich verflo-
    gen, als er das Haus wieder betrat, das sein ganzes
    Drama enthielt, und dessen gleichmäßig laue Luft
    ihm schwerer auf der Brust lastete, als wenn sie eine
    Mitwisserin und Verräterin seiner schuldigen Ge-
    heimnisse gewesen wäre. Es war nicht der Schritt
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    eines Siegers, mit welchem er die Stufen hinan-
    schlich, so langsam wie an jenem Abend, der plötz-
    lich vor seiner Erinnerung stand, als sie Beide, zum
    erstenmale ganz einander gehörig, sich auf der dun-
    keln Treppe aneinander drängten. Es ward nicht
    besser, als er oben die Räume durchschritt, die alle
    unauslöschlich durchtränkt schienen mit dem Atem
    seiner Leidenschaft. Wo war ein Winkel, in welchem
    er nicht einen verbotenen Gedanken gedacht, einen
    schuldigen Blick, eine geheime Liebkosung ausge-
    tauscht. Alles ringsumher war lange, so lange zum
    Zeugen und zum bösen Gewissen geworden; es war
    zu spät, in diesem Kreise, der sich so erstickend fest
    um ihn geschlossen, vergessen und erneuern zu wol-
    len.
    Von Anna, welche in ihrem gemeinsamen Salon
    vor dem Kaminfeuer in einem der beiden Sessel saß,
    von denen der andere, sein eigener, ihn zu erwarten
    schien, drang ein Blick, so mitleidig-stil und beruhi-
    gend durch den Nebel von Trostlosigkeit, der ihn
    umgab, hindurch, daß seine Seele, wie ein tiefes Auf-
    schluchzen, einen Augenblick den heißen Wunsch
    fand:
    »Wenn es sein könnte!«
    Aber er ging vorüber, denn er wußte, »es konnte
    nicht sein«.
    Auf den soeben erlebten jähen Willensauf-
    schwung war unmittelbar die tiefste Niedergeschla-
    genheit und Ergebung gefolgt. Er wagte von der Zu-
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    kunft nichts mehr zu hoffen und suchte einen ver-
    zweifelten Trost darin, Alles gehen zu lassen, wie es
    mochte. Als er sich am Abend von Dora verabschie-
    dete, that er es, ohne selbst zu wissen, warum? mit
    dem Blicke, in dem ihr gewohntes Einverständnis
    ausgesprochen war: »Auf morgen!«
    Beim Fortgehen aus der Zusammenkunft am näch-
    sten Morgen faßte er dennoch den Vorsatz, nicht da-
    hin zurückzukehren; bis zu dem Grade hatte ihn der
    Zustand, in den das Verhältnis jetzt eingetreten, mit
    Widerstreben und Abscheu erfüllt. Er ahnte nicht,
    daß sich Dora zur gleichen Zeit dasselbe Verspre-
    chen gab. Aber tags darauf fanden sie sich wieder
    einander gegenüber.
    Was war aber auch aus ihrer Liebe geworden! Die
    Hoffnung und sogar jeder Anspruch auf ein see-
    lisches Einverständnis, die kostbare Illusion, welche
    ihre Vereinigung über das niedere Gebiet der Sinne
    hinauszuheben vermocht, einmal ausgeschieden,
    blieb nichts als die rein körperliche Anziehung. Der
    Fal war so jäh und so tief, daß sie ihn zu Zeiten noch
    immer nicht begriffen. Doch bestand der Vorgang
    am Ende bloß in einer ziemlich gewöhnlichen Ent-
    täuschung. Beide litten sie unter dem exaltierten Be-
    dürfnisse, zu lieben, während es Einem wie dem
    Andern an der Fähigkeit dazu gebrach; ebenso wie
    Jeder von ihnen Fragmente von religiösem Gefühl in
    sich trug, ohne die stete Innigkeit des Glaubens zu
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    besitzen. Da sie sich also nicht zu ergänzen ver-
    mochten, hatten sie sich zu zerstören begonnen.
    Zuweilen unterbrachen sie sich Beide zugleich in
    einem der wortlos knirschenden Ausbrüche ihrer
    Begierde, und ihre Blicke, die sich suchten, befragten
    sich gegenseitig mit einer langen, übermäßig trauri-
    gen Frage, worauf die Antwort: Nichts, immer
    nichts. Von der schrecklichen Furcht vor dem Leeren
    rasend gemacht, ließen sie sich dann von neuem wie
    in einem Wirbel von ihrer Begierde fortreißen, die, je
    mehr sie sie zu befriedigen suchten, nur desto uner-
    sättlicher wurde. Es dauerte nicht lange, bis sie zu ih-
    rer Stillung zu jenen Mitteln griffen, welche eine
    fleischliche Liebe bis zum Äußersten erniedrigen.
    Wellkamp mußte in die wildeste Zeit seiner unruhi-
    gen Existenz zurückdenken, um ihresgleichen zu
    finden für die Sprache der unkeuschen Gesten

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