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In einer Familie

In einer Familie

Titel: In einer Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Mann
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jede
    Entschuldigung vor sich selbst unmöglich gemacht,
    so war endlich der Weg für das Schuldgefühl frei.
    Die jähe Regung desselben warf ihn auf die Otto-
    mane nieder. Seine Züge zogen sich zusammen un-
    ter der furchtbaren Anstrengung, welche sein ge-
    quältes Hirn machte, diesen unerträglichen Gedan-
    ken zu bezwingen. In seiner Geistesabwesenheit
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    hatte er ein wiederholtes Klopfen an der Thür über-
    hört, auch den Eintritt Annas nicht bemerkt und
    ward ihre Gegenwart erst gewahr, als die junge Frau
    dicht herangetreten war. Er fühlte einen innern
    Stoß, als müsse er aufspringen. Da stand sie vor ihm,
    unerwartet und wie eine Mahnerin, die Frau, der er
    Alles schuldete, die er betrogen, so lange er sie
    kannte! Es war, als sähe er sie mit völlig veränderten
    Augen: wie hatte er jemals in ihrer Gegenwart ruhig
    bleiben können! In der letzten Zeit hatte er sie, sei-
    nen wirren Stimmungen folgend, bald als Feindin
    angesehen, bald sich bei dem Gedanken an ihre ge-
    täuschte Ahnungslosigkeit erweicht und war selbst
    zärtlich geworden, als er zum Beispiel ihrer Güte
    und Nachsicht während jener unleidlichen Szene
    gedachte, die er ihrem Vater gemacht, und der lieb-
    reichen Erklärung, die er sie damals für sein Betra-
    gen hatte geben hören. – In diesem Augenblicke
    nun zeigte ein plötzlicher Eindruck sie ihm als
    Richterin, und wie in einer Stunde des Urteils stei-
    gerte sein erwachtes Gewissen alle seine Sinne, wel-
    che wie in fortwährenden Blitzen diesen Augen-
    blick mit allem Geschehenen in Zusammenhang
    brachten, Alles das, wovon seine Erinnerung voll
    war, auf ihn bezogen.
    Anna hinderte ihn, als sie seine Bewegung be-
    merkte, am Aufstehen, indem sie leise ihre Hand auf
    seine heiße Stirn legte. Er hätte ihr zurufen mögen:
    »Nimm sie weg!«, eine so beängstigende Vorstellung
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    hatte er sogleich davon, daß seine Stirn, wie sein gan-
    zer Leib durch so viele verbrecherische Zärtlichkei-
    ten entweiht und unwürdig gemacht sei, die keusche
    Liebkosung dieser Hand zu empfangen, die so kühl
    wie die eines jungen Mädchens war.
    »Du bist noch blässer, als Du in letzter Zeit
    warst«, sagte sie mit ihrer ruhigen Stimme. »Was
    fehlt Dir?«
    Er zuckte zusammen. Noch blässer als sonst, noch
    blässer als ihn seine Schuld und die Ausschweifun-
    gen seiner Leidenschaft gemacht hatten! Er blieb
    wie geschlagen vor Scham und Abscheu.
    »Was fehlt Dir? Sag es mir!« wiederholte sie, wie
    wenn sie in ein krankes Kind drängte.
    Und es fand sich, daß dies der rechte Ton war. Wie
    sie sich tiefer über ihn neigte, empfand er eine große
    Abspannung, als ob sich seine Glieder lösten.
    »Jetzt nichts mehr,« sagte er, »nun Du bei mir
    bist«.
    Er verbarg das Zucken seines Gesichtes in ihrer
    Hand, die er mit seinen Thränen benetzte.
    Seine Hingebung war in diesem Augenblick voll-
    kommen. Es gab für ihn schon kein Hindernis mehr
    zwischen ihm und Anna; es gab kaum noch ein Ge-
    heimnis. Mußte sie nicht bereits Alles wissen? Wie
    es ihn damals ihr von seinem Glück wie zu einer Ver-
    trauten zu sprechen drängte, so konnte ihr jetzt sein
    tiefstes Unglück unmöglich verborgen sein. Sie war
    seine natürliche Trösterin, sein Halt; vielleicht war
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    dies das bedeutendste Band, das ihn für alle Zeit an
    sie fesselte.
    Er küßte die Hand, die sie nicht zurückgezogen,
    und war im Begriffe, ihr sein ganzes Herz zu öffnen.
    Indes hatte sie die Exaltation seiner Hingebung be-
    schäftigt. Diese Nervenkrisis ließ ihr seinen Zustand
    schlimmer erscheinen, als sie ihn sich vorgestel t. Sie
    suchte nach einer Beruhigung und sagte mit einem
    plötzlichen Einfall:
    »Das Leben hier ist nichts mehr für Dich. Warte,
    es wird besser werden, wenn wir reisen. Wann wil st
    Du? Ich dächte, wir brächen auf, sobald es Frühling
    wird. Wir finden einen schönen Fleck in der Schweiz
    oder in Ober-Italien, wo ich Dich pflege, mein Lie-
    ber.«
    Er blickte auf, erst verwundert, dann mit jähem
    Begreifen. Es war, als höbe sich eine Wolke auf, die
    über sie Beide gefallen, und er sah nun wieder, daß
    zwischen ihnen etwas lag, das er einen Augenblick
    lang vergessen: sein schuldiges Geheimnis. Aber zu-
    gleich öffneten ihre Worte einen unverhofften Aus-
    weg für seine, sofort mit der Besinnung zurückge-
    kehrte, feige Unentschlossenheit.
    Wenn sie reisten, so änderte sich Alles. Dies aber
    sol te ihn kein Eingreifen kosten, dessen er in seinem
    Zustande nicht fähig gewesen wäre,

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