In einer Familie
jede
Entschuldigung vor sich selbst unmöglich gemacht,
so war endlich der Weg für das Schuldgefühl frei.
Die jähe Regung desselben warf ihn auf die Otto-
mane nieder. Seine Züge zogen sich zusammen un-
ter der furchtbaren Anstrengung, welche sein ge-
quältes Hirn machte, diesen unerträglichen Gedan-
ken zu bezwingen. In seiner Geistesabwesenheit
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hatte er ein wiederholtes Klopfen an der Thür über-
hört, auch den Eintritt Annas nicht bemerkt und
ward ihre Gegenwart erst gewahr, als die junge Frau
dicht herangetreten war. Er fühlte einen innern
Stoß, als müsse er aufspringen. Da stand sie vor ihm,
unerwartet und wie eine Mahnerin, die Frau, der er
Alles schuldete, die er betrogen, so lange er sie
kannte! Es war, als sähe er sie mit völlig veränderten
Augen: wie hatte er jemals in ihrer Gegenwart ruhig
bleiben können! In der letzten Zeit hatte er sie, sei-
nen wirren Stimmungen folgend, bald als Feindin
angesehen, bald sich bei dem Gedanken an ihre ge-
täuschte Ahnungslosigkeit erweicht und war selbst
zärtlich geworden, als er zum Beispiel ihrer Güte
und Nachsicht während jener unleidlichen Szene
gedachte, die er ihrem Vater gemacht, und der lieb-
reichen Erklärung, die er sie damals für sein Betra-
gen hatte geben hören. – In diesem Augenblicke
nun zeigte ein plötzlicher Eindruck sie ihm als
Richterin, und wie in einer Stunde des Urteils stei-
gerte sein erwachtes Gewissen alle seine Sinne, wel-
che wie in fortwährenden Blitzen diesen Augen-
blick mit allem Geschehenen in Zusammenhang
brachten, Alles das, wovon seine Erinnerung voll
war, auf ihn bezogen.
Anna hinderte ihn, als sie seine Bewegung be-
merkte, am Aufstehen, indem sie leise ihre Hand auf
seine heiße Stirn legte. Er hätte ihr zurufen mögen:
»Nimm sie weg!«, eine so beängstigende Vorstellung
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hatte er sogleich davon, daß seine Stirn, wie sein gan-
zer Leib durch so viele verbrecherische Zärtlichkei-
ten entweiht und unwürdig gemacht sei, die keusche
Liebkosung dieser Hand zu empfangen, die so kühl
wie die eines jungen Mädchens war.
»Du bist noch blässer, als Du in letzter Zeit
warst«, sagte sie mit ihrer ruhigen Stimme. »Was
fehlt Dir?«
Er zuckte zusammen. Noch blässer als sonst, noch
blässer als ihn seine Schuld und die Ausschweifun-
gen seiner Leidenschaft gemacht hatten! Er blieb
wie geschlagen vor Scham und Abscheu.
»Was fehlt Dir? Sag es mir!« wiederholte sie, wie
wenn sie in ein krankes Kind drängte.
Und es fand sich, daß dies der rechte Ton war. Wie
sie sich tiefer über ihn neigte, empfand er eine große
Abspannung, als ob sich seine Glieder lösten.
»Jetzt nichts mehr,« sagte er, »nun Du bei mir
bist«.
Er verbarg das Zucken seines Gesichtes in ihrer
Hand, die er mit seinen Thränen benetzte.
Seine Hingebung war in diesem Augenblick voll-
kommen. Es gab für ihn schon kein Hindernis mehr
zwischen ihm und Anna; es gab kaum noch ein Ge-
heimnis. Mußte sie nicht bereits Alles wissen? Wie
es ihn damals ihr von seinem Glück wie zu einer Ver-
trauten zu sprechen drängte, so konnte ihr jetzt sein
tiefstes Unglück unmöglich verborgen sein. Sie war
seine natürliche Trösterin, sein Halt; vielleicht war
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dies das bedeutendste Band, das ihn für alle Zeit an
sie fesselte.
Er küßte die Hand, die sie nicht zurückgezogen,
und war im Begriffe, ihr sein ganzes Herz zu öffnen.
Indes hatte sie die Exaltation seiner Hingebung be-
schäftigt. Diese Nervenkrisis ließ ihr seinen Zustand
schlimmer erscheinen, als sie ihn sich vorgestel t. Sie
suchte nach einer Beruhigung und sagte mit einem
plötzlichen Einfall:
»Das Leben hier ist nichts mehr für Dich. Warte,
es wird besser werden, wenn wir reisen. Wann wil st
Du? Ich dächte, wir brächen auf, sobald es Frühling
wird. Wir finden einen schönen Fleck in der Schweiz
oder in Ober-Italien, wo ich Dich pflege, mein Lie-
ber.«
Er blickte auf, erst verwundert, dann mit jähem
Begreifen. Es war, als höbe sich eine Wolke auf, die
über sie Beide gefallen, und er sah nun wieder, daß
zwischen ihnen etwas lag, das er einen Augenblick
lang vergessen: sein schuldiges Geheimnis. Aber zu-
gleich öffneten ihre Worte einen unverhofften Aus-
weg für seine, sofort mit der Besinnung zurückge-
kehrte, feige Unentschlossenheit.
Wenn sie reisten, so änderte sich Alles. Dies aber
sol te ihn kein Eingreifen kosten, dessen er in seinem
Zustande nicht fähig gewesen wäre,
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