In einer kalten Nacht: Roman (German Edition)
nicht.«
Jugendlich frisch und mit ihren großen Augen sah Jennifer aus wie ein Teenager mit Liebeskummer in ihrem großen karierten Hemd und der Jeans. Das Haar hatte sie zum Pferdeschwanz hochgebunden. Sie streckte die Hand über den Tisch zu seiner aus. »Aber wissen Sie, warum er nicht gesagt hat, dass er uns kennt? Meinetwegen. Wir wollen denjenigen erwischen, der Emily das angetan hat.« Sie blickte Anderson tief in die Augen.
In ihren Augen sah er die gleiche Hochspannung aufblitzen wie bei ihrer Schwester.
»Wissen Sie, ich erinnere mich noch, als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe – als Polizist, meine ich. Wir waren im Krankenhaus, und wir wussten nicht, ob Emily es schaffen würde. Mum und Dad standen völlig neben sich. Aber sie hatten einander. Emily ist meine Schwester, und wir standen uns sehr nahe. Die Polizei kam und ging und stellte Emilys Leben auf den Kopf. Es war schrecklich. Und dann tauchte Dave auf. Er fragte mich, wie es mir ginge. Mich. Er machte mir eine Tasse Tee, und wir redeten über mich. Sogar jetzt fragen alle, die uns besuchen, immer nur nach Emily. Oder nach Dad. Das macht mir nichts aus, aber Dave war mein Geheimnis. War.«
»Ich glaube, ich verstehe Sie.« Anderson nippte an seinem Tee. »So geht es schon seit zehn Jahren?«
»Ja. Und wir waren beide vollkommen darauf konzentriert herauszufinden, wer … dieser Mann …«
»Ich muss Sie fragen, ob er irgendwelche vertraulichen Informationen an Sie weitergegeben hat. Schließlich kennen Sie Lucy McCallum, was eigentlich nicht der Fall sein sollte.«
»Ich habe Jura studiert, genau wie Emily. Ich nahm mir ein Jahr frei, als es passierte, aber ich bin nie an die Uni zurückgegangen. Also habe ich mein Gehirn benutzt. Und mein Gehirn ist Ihrer blöden Datenbank ziemlich überlegen. Ich brauchte mir den ganzen Tag über nichts anderes Gedanken zu machen als darüber, wie man die Bastarde erwischen kann.«
»Und was ist gestern Nacht passiert?«
»Wir hatten uns verabredet. Ich habe ihm die Zeit gesagt, wenn Emily mit Sicherheit schlafen würde. Er hat mir unten vom Queen Margaret Drive eine SMS geschickt, und ich habe die Tür entriegelt. Ich wusste, er würde binnen einer Minute hier sein, und … na ja …« Sie breitete die Arme aus. »Manchmal reiße ich mir dann einfach die Kleidung vom Leib und gehe ins Bett und lasse ihn dazukommen.« Sie sah Anderson herausfordernd in die Augen. »Zehn Jahre lang. Ist das eine armselige Existenz?«
Anderson seufzte und fühlte sich mit einem Mal sehr alt. »Das würde ich nicht sagen, Jennifer. Auf gar keinen Fall.«
Zurück im Revier, fiel Anderson auf, dass er keine Ahnung hatte, was die DCI als Nächstes von ihm wollte. Was sie brauchten, war das, was sie noch nicht hatten: die Ergebnisse der DNA -Tests. Also hatte Anderson für zehn Uhr eine Besprechung angesetzt, damit die anderen ein wenig schlafen konnten. Was wahrscheinlich keiner von ihnen tun würde. Ehe er bei Jennifer Corbett vorbeigefahren war, hatte er mit Brenda und den Kindern gefrühstückt und Claire zur Schule gebracht. Er hatte die zwanzig Minuten mit ihr genossen und sich bemüht, nicht den strengen Vater zu spielen. Das nächste Ohrloch würde sie mit sechzehn bekommen, und über die Sache mit dem Vegetarismus würde er nachdenken. Auf ihre besonnene Art hatte sie geschmollt und gesagt, sie würde tun, was sie wolle, und Anderson tröstete sich damit, dass sich ein gesunder Teenager genau so zu benehmen hatte. Als sie aus dem Wagen stieg, steckte sie den Kopf durchs Fahrerfenster herein und gab ihm einen Kuss, als ihre Freundinnen nicht guckten.
Peter hatte beim Frühstück schweigend dagesessen und seine Cornflakes Stück für Stück gegessen. Er war in seiner eigenen kleinen Welt abgekapselt und gewährte niemandem Zutritt dazu.
Anderson hatte keine Lösung für dieses Problem.
Costello und Browne hatten den Mietwagen gut genutzt und waren für ein paar Stunden zum Schlafen nach Hause gefahren. Sie erschienen rechtzeitig zur Besprechung zurück. Jetzt saß Costello am Telefon und lauschte ohne Zweifel dem wunderbaren Harry. Sie lachte, ihre Mimik war belebt, beinahe hübsch. Sie sah zehn Jahre jünger aus, dachte Anderson.
Plötzlich bemerkte sie, dass Anderson sie beobachtete. »Danke für die Information … Ja, wir müssen so schnell wie möglich mit ihm reden. Ich bekomme schon böse Blicke vom Boss, also sollte ich … muss wieder …« Sie legte auf und starrte Anderson an. Dann seufzte sie. »Ich
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