In eisigen Kerkern (German Edition)
Seite.
„Dankeschön. Ich würde der Frau Herolder zum Abschied gerne eine aufs Maul hauen für diesen unsäglichen Murks.“
„Das mach ich für euch. Verschwindet jetzt.“
Nelli träumte ihr Leben wie durch den Quirl gedreht. Andi tauchte auf, immer wieder Andi - wie in jeder Nacht, seit sie ihm begegnet war. Nur war er diesmal nicht der freundliche Serienkiller, der ihr bis ans Ende ihrer Tage aufs Wohlwollendste ans Leder wollte, sondern ihr böswilliger Erlöser, der strafende Beobachter im Hinterkopf.
Jeder Mensch, dem sie je in ihrem Leben begegnet war, hatte seine Nische in Andis Gletscher gefunden und war samt seiner Bedeutung für Nellis Leben in Eis erstarrt.
Ihr toter Mann Nick war durchs Einfrieren zu neuem Leben erwacht, genau wie Nelli selbst. Das war Andis Botschaft: Ich habe Dich und die Deinen eingefroren und aufgetaut, Nelli, in Deinem neuen Leben bist Du Hammelfutter für die Wölfin.
Nelli wusste genau, was das bedeutete. Sie war wieder im Gletscher, im sauberen ewigen Eis, und Andi jagte wie ein Geist durch die glasigen Mauern und Böden, immer nur als Schemen mit blutiger Hakennase, immer überall, wohin Nelli sich drückte, und ein Ausgang war nie vorhanden gewesen. Dein Tagebuch, Nelli, ich fresse jetzt dein Tagebuch!
Ich hab es doch längst wieder, sagte Nelli im Traum und war plötzlich allerbester Dinge. Andi schüttelte den Kopf, zerplatzte blutspritzend hinter seiner eisigen Wand und schrie noch, als er längst in rotem Sternenstaub zerstoben war.
Wie sollte man in Ruhe schlafen, wenn man solche Schreie träumte? Andis unmenschliche Schreie waren gar nicht seine Schreie. Aber irgend jemand schrie doch hier!
Jemand pochte und brüllte: „Nelli? Wach auf, sie sind weg, Nelli!“
Monika. War die hier an ihrer Tür?
Mit einem Ruck war Nelli in der Wirklichkeit zurück. Sie stemmte sich mit einem leisen Keuchen aus ihrer zusammengesackten Haltung. Ohne es recht zu beabsichtigen, wie ein letztes Aufflattern von Traumhandlung, schaute sie beim Umdrehen und Aufstehen durchs Schlüsselloch.
Sie sah Schuhe, Knöchel und Hosenbeine.
Mein Gehirn beginnt schon auszutrocknen, dachte sie. Wo ist der Schlüssel, wenn er nicht im Schlüsselloch steckt?
„Mach schon auf, Nelli, ich bin’s. Es ist vorbei.“
„Moni?“
„Ja, mir geht es gut.“
„Was ist passiert?“
„Die sind weg. Wir können auch verschwinden.“
Nelli fand den Schlüssel in ihrer Hosentasche.
„Was ist mit dir? Warum sperrst du nicht auf?“
„Bist du allein?“
„Ja. Der Weg ist frei.“
„Was ist mit der Herolder?“
„Ist noch gefesselt. Willst du nicht endlich rauskommen?“
„Warum ist sie noch gefesselt?“
„Ich traue ihr nicht. Besser, du bist dabei, wenn wir sie losmachen.“
„Okay.“
Da war etwas, das Nelli hinderte, einfach aufzusperren. Der Blick durchs Schlüsselloch. Den sollte sie wiederholen. Nelli bückte sich.
Die Schuhe waren noch da, sie streckten ihre Hosenbeine nach rechts in Nellis schlüssellochförmigem Bildausschnitt. Monika verdeckte einen Teil des Sichtfeldes, aber hinter ihr, zur Linken, war noch was Seltsames erkennbar.
„Warum machst du nicht endlich auf, zum Donnerwetter!“
Wollte Nelli sich einer Person ausliefern, die mit so aggressiver Stimme sprach?
Monika bewegte sich, sie hämmerte an die Tür, und ihre Bewegung gab den Bildausschnitt zur Linken endlich frei. Nelli sah einen Haarschopf, schütter und blond, und ein blutverschmiertes Gesicht. Sie sah Augen, die Richtung Decke starrten, ohne etwas zu sehen. Der Hagere war im Tod noch hagerer und hohläugiger geworden.
Sind weg?
Nein, die beiden würden erst weg sein, wenn man sie wegtrug.
Bevor sie eingeschlafen war, auf dem kalten Boden sitzend an die Tür gelehnt, hatte Nelli die Stecknadel im Heuhaufen gefunden und mit ihrer Hilfe das Puzzle ihres Lebens neu zusammengefügt. Und siehe da: Die Teile, die sie vorher mit Gewalt in das Muster gepresst hatte, das sie all die Jahre hatte sehen wollen, obwohl es konfus und falsch war und ihr schwer zu schaffen machte, diese Teile fügten sich nun ineinander und ergaben ein leicht verständliches Bild.
Nelli behielt den Schlüssel in ihrer Tasche, drehte sich mit dem Rücken zur Tür, ließ sich daran entlang rutschend zu Boden sinken und schloss die Augen.
„Ich hab mein Tagebuch gefunden“, sagte sie halblaut.
„Was?“, fragte Monika draußen verständnislos, ungeduldig und zunehmend gereizt.
„Mein Tagebuch. Es war hier in diesem
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