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In Ewigkeit, Amen

In Ewigkeit, Amen

Titel: In Ewigkeit, Amen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Hanika
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Messergeschichte hatte uns wirklich zurückgeworfen.
    Großmutter polierte voller Elan weiter und summte dabei Lieder, die man sonst nur während eines Requiems hört. Allerdings nicht ganz so schwungvoll, wie Großmutter sie zum Besten gab. Irgendwie störte mich das. Ich stellte mich neben Großmutter an die Spüle und schaute hinaus in den Garten. Am Baum hingen noch immer unglaubliche Massen von Zwetschgen. Meine Gedanken schweiften von den zu fröhlichen Requiemsliedern meiner Großmutter zum Pudschek. Herbst und Zwetschgen erinnerten an den Pudschek. Auch wenn ich nicht wollte. Auch wenn ich mich weigerte.
    Zwetschgen hatte es in dem Jahr von Pudscheks Tod unendlich viele gegeben. Sie hatten am Boden gelegen, zwischen dem hohen, saftigen Gras, und keiner hob sie auf. Ich hatte mich dazugesetzt, auch wenn ich Gefahr lief, das Wasserschneiden zu bekommen. Großmutter war zu abgelenkt, um dies zu beanstanden, denn sie unterhielt sich mit dem alten Meier. Das war der Bauer, der uns den Hühnerstall mit dem großen Garten dazu verpachtet hatte.
    Die Natur ist in ihrer letzten Pracht, hätte Großmutter gesagt, wenn sie sich denn mit mir unterhalten hätte. Kurz vor ihrem Tod bäumt sie sich noch einmal auf und erstrahlt besonders wunderbar, hätte sie mir erklärt. Aber sie sagte gar nichts zu mir, und ich beobachtete stumm die riesigen Hornissen in ihrem gefährlichen Rotton, die auf den hutzeligen Zwetschgen saßen und mich davon abhielten zuzugreifen. Dazwischen saßen prächtige Schmetterlinge und schienen es genau auf den braunen Zwetschgensaft abgesehen zu haben, den ich so hasste.
    Immer wieder hatte ich die Augen gerade so weit zusammengekniffen, dass ich nur noch durch einen kleinen Schlitz und viele Wimpern in die Sonne blickte. Dann sammelten sich helle Flecken vor dem bunten Herbst, und man bemerkte den Verfall nicht mehr. Wahrscheinlich sah ich dann ganz besonders blöd aus.
    Der alte Meier hatte damals die Schmetterlinge nicht beachtet. Er hatte neben Großmutter gestanden, und sein Atem pfiff, als hätte er gerade einen Marathonlauf hinter sich. Seine Lunge klang aber immer so, egal, ob er sich körperlich angestrengt hatte oder nicht. Wie eine altersschwache Maschine, die nie im Leben durch den TÜV kommen und im nächsten Winter den Geist aufgeben würde. Ich hatte eine ganze Zeit beobachtet, wie er mit seinem »Haglsteckn« eine verfaulte Zwetschge nach der anderen wegschoss.
    »Des wär frühers nie passiert«, sagte er in meiner Erinnerung bei jeder zehnten Zwetschge. »Dass die Zwetschgen verfaulen.« Dabei hörte man in seiner Stimme das Gurgeln der Atemzüge, als würde tief in ihm drinnen eine Flüssigkeit brodeln und dampfen. Ich gruselte mich. Aber ich blieb trotzdem sitzen und tat so, als würde ich nicht zuhören, obwohl ich natürlich jedes Wort mitbekam. Dem Gesichtsausdruck nach zu schließen wollte der Meier etwas loswerden und wartete nur auf den richtigen Moment. Und den Moment wollte ich wiederum nicht verpassen. Obwohl ich wusste, dass er um den heißen Brei herumredete, weil ich dabeisaß.
    »Des wär frühers nie passiert«, wiederholte er sich. Das war eines seiner Lieblingsthemen. Wenn die Äpfel herunterfielen und sich nicht die ganze Dorfbevölkerung auf das Obst stürzte und es vor dem Verfaulen rettete, sich praktisch ausschließlich von Äpfeln ernährte, kamen bei ihm die Kriegserinnerungen hoch.
    »Da ham s’ jeden Baum vermietet«, kam dann meist sein Standardsatz. »Und jeder Straßenbaum ist geplündert worden. Und jetzt? Jetzt gehen s’ ins Gschäft.« Er röchelte noch ein bisschen schlimmer. »Und kaufen sich den neuseeländischen Krampf. Der schmeckt doch nach nix.«
    »Nach nix«, bestätigte Großmutter. »Da kannst genauso gut a Tomaten essen. Schmeckt genauso.«
    »Nach nix«, waren sie sich einig. Ich sah mir den schleimigen Inhalt einer Zwetschge an, der aussah, als würde er nur aus Raupenkot und verflüssigtem, braunem Zwetschgenmus bestehen. Kein Wunder, dass alle ins Geschäft gingen.
    »Hast es schon g’hört?«, hatte er nach einem rasselnden Atemzug gefragt. »Vom Pudschek.«
    Meine Großmutter gab nur ein zustimmendess Brummein von sich.
    »Is wahr?«, fragte er weiter. »Mit dem Pudschek.«
    Und dann sahen sie beide zu mir. Mir war bereits damals schon klar, was dieser Blick bedeutete. Dinge, die man vor einem 12-jährigen Mädchen nicht einmal flüstern durfte. Entweder war der Pudschek zur SPD gewechselt, oder er hatte Sex gehabt. Oder aber er

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