In feinen Kreisen
Gesicht verriet keine Regung. »Das ist nur natürlich. Sie lebte schließlich seit ihrem zwölften oder dreizehnten Lebensjahr bei Mrs. Anderson. Sie hätte ein höchst undankbares Geschöpf sein müssen, wäre sie dieser Frau nicht von Herzen zugetan. Wir haben ihre Gefühle in dieser Hinsicht selbstverständlich respektiert.«
»Selbstverständlich«, antwortete Tobias nickend. »Bitte, fahren Sie fort.«
Widerstrebend sprach Campbell weiter. Er berichtete von dem Dinner an jenem Abend, von der Konversation bei Tisch, bei der es um Ägypten gegangen war, und kam schließlich darauf zu sprechen, dass sie nach dem Essen alle ihren eigenen Beschäftigungen nachgegangen waren.
»Und Mrs. Gardiner hat nicht mit Ihnen gespeist?«
»Nein.«
»Sagen Sie uns, Mr. Campbell, hat sich Ihre Schwester in irgendeiner Form darüber geäußert – entweder an jenem Abend oder zu einem früheren Zeitpunkt –, wie sie zu dem Mord an Treadwell stand und zu der Anschuldigung Mrs. Gardiner gegenüber?«
Rathbone erhob sich, um zu protestieren, aber er hatte keine juristische Handhabe, ja im Grunde nicht einmal eine moralische. Er musste sich schweigend wieder setzen.
Campbell schüttelte den Kopf. »Wenn Sie fragen, ob ich weiß, was geschehen ist oder warum, nein, ich weiß es nicht. Verona machte sich wegen irgendetwas große Sorgen. Sie war gewiss nicht sie selbst. Das kann Ihnen jeder der Dienstboten bestätigen.«
Tatsächlich hatten die Dienstboten durchweg Ähnliches gesagt, obwohl Campbell zu der Zeit natürlich nicht im Gericht anwesend war, da er selbst seine Aussage noch nicht gemacht hatte.
»Ich glaube, sie hatte etwas herausgefunden…« Seine Stimme klang belegt, und seine Gefühle schienen ihn zu überwältigen. »Ich persönlich bin der Auffassung, obwohl ich es durch nichts beweisen kann, dass sie vor ihrem Tod herausfand, wer Treadwell getötet hatte, und auch genau wusste, warum. Ich denke, das ist der Grund, warum sie allein auf ihr Zimmer ging: um darüber nachzudenken, was sie deswegen unternehmen sollte.« Er schloss die Augen. »Es war eine tödliche Entscheidung. Ich wünschte bei Gott, sie hätte sich anders entschieden…«
Er hatte im Grunde nur sehr wenig gesagt, auch keine neuen Fakten zutage gefördert und ganz gewiss niemanden angeklagt, und doch war seine Aussage vernichtend. Rathbone konnte es in den Gesichtern der Geschworenen sehen.
Es hatte keinen Zweck, wenn er selbst Campbell befragte. Es gab für ihn nichts, wozu er genauere Auskünfte benötigt, nichts, was er in Zweifel hätte ziehen können. Es war Freitagabend. Er hatte zwei Tage Zeit, um irgendeine Art von Verteidigung aufzubauen, aber er hatte nichts in der Hand, womit er das tun konnte – es sei denn, Monk fände etwas heraus. Und bisher hatte er keine Nachricht von ihm erhalten.
Als das Gericht sich erhob, überlegte er kurz, noch einmal zu versuchen, Miriam die Wahrheit abzuringen, aber dann verwarf er den Gedanken gleich wieder. Es hätte keinen Sinn gehabt. Wie auch immer die Wahrheit aussah, Miriam hatte ihn bereits davon überzeugt, dass sie sich lieber hängen lassen würde als diese Wahrheit preiszugeben.
Also verließ Rathbone stattdessen das Gerichtsgebäude, hielt einen Hansom an und fuhr direkt nach Primrose Hill. Er erwartete keine Hilfe von seinem Vater, er fuhr einfach zu ihm, um den Frieden des stillen Gartens zu genießen, in dem er Kraft für die nächste Woche schöpfen wollte.
11
Während Rathbone niedergeschlagen im Gerichtssaal saß, setzte Monk seine Ermittlungsarbeiten fort und versuchte, Einzelheiten über Treadwells Leben in Erfahrung zu bringen. Er hatte die Bewohner des Hauses der Stourbridges bereits ausgiebig befragt und sich auch in der Gegend um den Cleveland Square herum umgehört. Niemand hatte ihm einen Hinweis geben können, der auch nur den geringsten Anhaltspunkt für weitere Erkundigungen geboten hätte. Treadwell war geradezu langweilig durchschnittlich gewesen.
Dann nahm er sich Kentish Town vor, wo Treadwell aufgewachsen war. Es war ein schwieriges Unterfangen, und er hatte kaum Hoffnung etwas herauszufinden. Er befürchtete, dass Miriam Gardiner tatsächlich schuldig im Sinne der Anklage und die arme Cleo Andersen nur mit hineingezogen worden war, weil sie das Mädchen, das sie einst gerettet hatte, so sehr liebte. Sie hatte sich geweigert zu erkennen, dass Miriam unter all ihrer freundlichen Oberfläche und scheinbaren Verletzlichkeit zu einer habgierigen Frau herangewachsen
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