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In feinen Kreisen

In feinen Kreisen

Titel: In feinen Kreisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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möglichen Begebenheiten, von kleinen Siegen über die Bürokratie, und stellte alles so komisch wie möglich dar.
    Er trank seinen Tee aus und stellte den leeren Becher beiseite.
    »Nur weiter«, drängte er. »Ich hör so gern Ihre Stimme, Mädchen. Sie lässt mich an alte Zeiten denken…«
    Sie versuchte, sich an andere Geschichten zu erinnern, solche, die einen glücklichen Ausgang genommen hatten, und hier und da erfand sie etwas hinzu. Ab und zu unterbrach er sie mit einer Frage. Es war warm und behaglich, wie sie so in der Nachmittagssonne saßen, und es überraschte sie nicht, als sie aufblickte und sah, dass er die Augen geschlossen hatte. Es war genau die richtige Zeit, um einzudösen. Auf keinen Fall fühlte sie sich durch sein Verhalten gekränkt. Er lächelte noch immer über den letzten kleinen Sieg, von dem sie ihm berichtete und den sie im Rückblick ein wenig ausgeschmückt hatte.
    Sie stand auf, um sich davon zu überzeugen, dass er auch wirklich nicht fror, da die Sonne inzwischen weiter gewandert war und seine Füße sich im Schatten befanden. Erst da fiel ihr auf, wie still er war. Kein gequältes Atmen, kein Röcheln, wenn die Luft in seine zerstörten Lungen drang.
    Schon als sie die Finger auf seinen Hals legte und keinen Puls fand, spürte sie Tränen auf ihren Wangen. Es war lächerlich. Sie hätte um seinetwillen froh sein sollen, aber sie konnte nicht anders. Sie setzte sich hin und weinte, weinte vor Müdigkeit, vor Angst und weil sie einen ihr lieb gewonnenen Menschen verloren hatte.
    Sie saß noch immer im Sessel gegenüber dem alten Mann, als Michael Robb am späten Nachmittag nach Hause kam.
    Es fiel ihm zuerst nicht auf, dass etwas anders war als sonst. Sie stand hastig auf und trat zwischen ihn und den alten Mann.
    Dann sah er ihr Gesicht und bemerkte, dass sie geweint hatte. Er wurde blass.
    »Er ist tot«, sagte sie sanft. »Ich war hier – ich habe mit ihm geredet. Wir haben uns alte Geschichten erzählt und ein wenig gelacht. Er ist einfach eingeschlafen.« Sie trat zur Seite, sodass er das friedliche Gesicht seines Großvaters sehen konnte, auf dem noch immer der Hauch eines Lächelns lag.
    Michael kniete sich neben ihn und ergriff seine Hand. »Ich hätte hier sein sollen!«, sagte er heiser. »Es tut mir Leid! Es tut mir so Leid…«
    »Wenn Sie die ganze Zeit hier geblieben wären, wer hätte dann das Geld verdient, von dem Sie beide gelebt haben?«, fragte sie. »Er wusste das – er war so stolz auf Sie.«
    Michael beugte sich vor, die Tränen rannen ihm über die Wangen, und seine Schultern zuckten.
    Sie wusste nicht, ob sie zu ihm gehen und ihn berühren sollte, ob sie ihn damit trösten konnte oder ob er diese Geste als Zudringlichkeit empfinden würde. Ihr Gefühl riet ihr, ihn in die Arme zu nehmen; er wirkte so jung und so einsam. Ihr Verstand sagte ihr, dass er mit seiner Trauer allein fertig werden musste. Das Gefühl gewann die Oberhand, und sie hockte sich neben ihn auf den Boden und nahm ihn in die Arme.
    Als er den ersten Schock überwunden hatte, stand er auf und wusch sich mit dem Wasser aus dem Krug das Gesicht. Dann setzte er Wasser auf. Ohne mit ihr zu sprechen, kochte er frischen Tee.
    »Ist das Ihr Sherry?«, fragte er.
    »Ja. Bedienen Sie sich.«
    Er schenkte ihnen großzügig zwei Gläser ein und reichte ihr eines davon. Sie setzten sich nicht. Es gab nur einen einzigen freien Stuhl, und keiner von ihnen wollte ihn für sich in Anspruch nehmen.
    »Ich danke Ihnen«, sagte er ein wenig verlegen. »Ich weiß, Sie haben es für ihn getan, nicht für mich, aber ich bin Ihnen trotzdem dankbar.« Er hielt inne, offensichtlich, weil er etwas sagen wollte, aber nicht wusste, wie er beginnen sollte.
    Sie nippte an dem Tee und wartete ab.
    »Die Sache mit Mrs. Anderson tut mir Leid«, sagte er abrupt.
    »Ich weiß«, versicherte sie ihm.
    »Sie hat all die Medikamente für die Alten und Kranken gestohlen, nicht wahr…« Es war keine Frage.
    »Ja. Ich könnte das beweisen, wenn es sein müsste.«
    »Unter anderem für meinen Großvater…« Auch das war eine Feststellung.
    »Ja.« Sie sah ihm unverwandt in die Augen. Er wirkte verletzlich und unglücklich. »Sie hat es aus freien Stücken getan. Weil sie es für richtig hielt«, fuhr sie fort.
    »Es ist immer noch etwas Morphium da«, sagte er leise.
    »Ach ja?«
    »Um Gottes willen – seien Sie vorsichtig, Mrs. Monk!« Sein Gesicht drückte aufrichtige Angst aus, keinen Tadel.
    Sie lächelte. »Das ist nicht

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