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In feinen Kreisen

In feinen Kreisen

Titel: In feinen Kreisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Interesse handelte, vielleicht überhaupt nichts – jedenfalls nicht jetzt schon.
    »Kann ich die Leiche sehen?«, fragte er.
    »Natürlich.« Robb erhob sich. Eine Identifizierung würde ihnen vielleicht weiterhelfen. Zumindest würde sie Monk das Gefühl geben, etwas erreicht zu haben. Er würde dann wissen, wer sein Opfer war.
    Monk bedankte sich und folgte ihm die Treppe hinunter auf die Straße, wo ein leichter Wind den heißen Tag erträglicher machte, auch wenn es immer noch penetrant nach Pferden, Kochfeuern und trockenen Rinnsteinen roch. Das Leichenschauhaus war nicht weit entfernt, und Robb ging mit langen Schritten voraus. Er hatte die Hände tief in den Taschen vergraben und blickte, ohne etwas zu sagen, zu Boden. Es war unmöglich, seine Gedanken zu erraten. Monk schätzte ihn auf Ende zwanzig. Vielleicht hatte er noch nicht viele Tote gesehen. Möglicherweise war dies sein erster Mordfall. Er würde das Gefühl haben, von den Ereignissen überrollt zu werden, und es war gewiss eine beunruhigende Erfahrung, ganz allein die Verantwortung für die Aufklärung eines solchen Falls zu tragen.
    Monk ging neben ihm her und passte sich seinem Schritttempo an, aber er versuchte nicht das Schweigen zu brechen. Etliche Kutschen fuhren an ihnen vorüber, die Geschirre glänzten in der Sonne, und die Hufe der Pferde hallten auf dem Pflaster wider. Es wehte eine leichte Brise, und die Luft über der weiten Grasfläche war klar und süß. Irgendwo spielte eine Drehorgel.
    Das Leichenschauhaus war ein recht eindrucksvolles Gebäude, als habe der Architekt eine Art Denkmal für die Toten errichten wollen, obwohl sie nur kurze Zeit dort verweilten.
    Robb straffte sich und beschleunigte seinen Schritt. Monk folgte ihm die Treppe hinauf und durch die Tür. Der vertraute Geruch drang ihm in die Nase. Jedes Leichenschauhaus, an das er sich erinnerte, roch wie dieses hier, säuerlichsüß, und hinterließ einen ganz eigenen Nachgeschmack im Mund. Alles Schrubben und Putzen der Welt half nichts, um den Odem des Todes zu vertreiben.
    Der Diener kam heraus und erkundigte sich höflich, ob er ihnen helfen könne. Er sprach mit einem leichten Lispeln und sah Robb eine Sekunde lang mit zusammengekniffenen Augen an, bevor er ihn erkannte.
    »Sie kommen sicher wieder wegen Ihres Kutschers«, sagte er kopfschüttelnd. »Wir können Ihnen nichts Neues sagen.«
    Sie folgten dem Mann in einen gekachelten Raum, in dem ihre Schritte widerhallten. Die Luft war feucht und erfüllt von beißenden Desinfektionsdämpfen. Dahinter befand sich das Eishaus, in dem Leichen aufbewahrt werden mussten, die man nicht binnen ein oder zwei Tagen begraben konnte.
    »Sie brauchen ihn nicht herauszubringen«, sagte Robb schroff. »Wir sehen ihn uns drinnen an. Dieser Gentleman ist vielleicht in der Lage, uns über seine Identität aufzuklären.«
    Im Eishaus herrschte grimmige Kälte. Monk war froh darüber, denn er hatte schon weniger gut ausgestattete Leichenschauhäuser gesehen.
    Er hob das Laken. Darunter lag der Leichnam eines gut genährten Mannes zwischen dreißig und vierzig. Er war muskulös und kräftig gebaut und hatte bis auf Hände, Hals und Gesicht, die von Sonne und Wind gebräunt waren, blasse Haut. Er hatte bräunliches Haar, scharf geschnittene Gesichtszüge und eine große Schwellung an der rechten Schläfe, als habe ihm jemand einen kräftigen Schlag versetzt.
    Monk musterte den Toten eingehend. Seine Knie und die Innenseiten der Handflächen wiesen Schürfwunden auf. Ansonsten konnte Monk keine Verletzungen entdecken, bis auf eine alte Narbe am Bein und eine Anzahl geringfügiger Schnitte und Kratzer an den Händen, von denen einige ebenso alt sein mussten wie die Narbe am Bein. Es war genau das, was Monk von einem Mann erwartete, der mit Pferden gearbeitet und seinen Lebensunterhalt als Kutscher verdient hatte.
    Das Gesicht sah er sich als Letztes an, aber durch die geschlossenen Augen und die durch den Tod erstarrten Züge konnte er sich kaum vorstellen, wie der Mann zu Lebzeiten ausgesehen hatte. Seine Gesichtszüge waren ausgeprägt, die Lippen schmal, die Stirn breit. Intelligenz und Charme hätten ihn attraktiv erscheinen lassen können, Übellaunigkeit, Habgier oder Grausamkeit vermutlich hässlich. So viele Deutungsmöglichkeiten lagen im Ausdruck eines Toten.
    War dies James Treadwell? Nur jemand aus dem Haus der Stourbridges konnte diese Frage beantworten.
    »Möchten Sie sich die Kleidung ansehen?«, fragte Robb, der ihn

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