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In feinen Kreisen

In feinen Kreisen

Titel: In feinen Kreisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Gewalt Zutritt zum Haus verschaffen wollte.
    Er machte absichtlich einen großen Schritt zurück.
    »Guten Abend, Mrs. Andersen«, erwiderte er. In diesem Augenblick beschloss er sie nicht anzulügen. »Mein Name ist William Monk. Mr. Lucius Stourbridge hat mich beauftragt, Miriam Gardiner ausfindig zu machen. Wie Sie vielleicht wissen, ist sie aus seinem Haus verschwunden, wo sie zu Gast war, und er ist ganz außer sich vor Sorge um sie.« Er hielt inne, weil plötzlich ein Schatten von Furcht in ihre Augen trat. Ihr Atem beschleunigte sich, ihre Haltung wurde starr. Aber andererseits hatte man Treadwells Leiche vor ihrem Haus gefunden, und sie machte sich bestimmt Sorgen um Miriam, außer, sie hätte bereits gewusst, dass sie sich in Sicherheit befand, dass ihr keine Gefahr drohte.
    »Können Sie mir helfen?«, fragte er leise.
    Eine Sekunde lang stand sie reglos da, dann trat sie einen Schritt zurück und zog die Tür weiter auf. »Es ist besser, Sie kommen herein«, forderte sie ihn widerstrebend auf.
    Er folgte ihr in einen schmalen Flur, von dem drei Türen abzweigten. Sie öffnete die mittlere, die in ein sauberes und überraschend helles Wohnzimmer mit gemütlichen Sesseln vor dem Kamin führte. An der einen Wand standen mehrere Schränke, in deren mit Messingschlüssellöchern versehenen Türen kein einziger Schlüssel steckte.
    »Mr. Stourbridge schickt Sie?«, erkundigte sie sich unsicher. Der Gedanke schien nichts Tröstliches für sie zu haben. Sie war immer noch so angespannt wie zu Beginn ihrer Unterredung und hielt die Hände verkrampft hinter ihrem Rücken verborgen.
    Er war viele Meilen gegangen und seine Füße brannten, aber er hätte niemals unaufgefordert Platz genommen. Es wäre ein Zeichen von schlechter Erziehung gewesen. »Er macht sich furchtbare Sorgen, dass ihr etwas zugestoßen sein könnte«, antwortete er. »Vor allem angesichts dessen, was mit dem Kutscher, Treadwell, geschehen ist.«
    So sehr Cleo Andersen sich um Selbstbeherrschung bemühte, sog sie bei dieser Bemerkung doch scharf den Atem ein. »Ich weiß nicht, wo sie ist!« Sie rang um Fassung. »Ich habe sie nicht mehr gesehen, seit sie zu der Krocketgesellschaft nach Bayswater gefahren ist. Davon hatte sie mir natürlich erzählt.« Sie sah ihm in die Augen.
    Er hatte das ungute Gefühl, dass sie log, wusste aber nicht, warum. Die Angst in ihrem Gesicht war nicht zu übersehen. Er sprach so sanft wie möglich.
    »Mr. Stourbridge hegt sehr tiefe Gefühle für Mrs. Gardiner. Er würde nichts tun, was nicht in ihrem Interesse läge oder zu ihrem Wohlergehen beitrüge.«
    Seine Stimme klang plötzlich belegt, so sehr nahm ihn diese Situation mit, und auch seine Gastgeberin hatte mit den Tränen zu kämpfen. »Das weiß ich. Er ist ein sehr netter junger Herr.« Sie blinzelte. »Aber das ändert nichts, weiß Gott.« Sie schien noch etwas hinzufügen zu wollen, schwieg dann jedoch.
    »Sie sind diejenige, die Miriam als Kind gefunden hat, nicht wahr?«, sagte er leise und mit großem Respekt. Es war weniger eine Frage als eine Feststellung.
    Sie zögerte. »Ja, aber das ist viele Jahre her. Sie war damals erst zwölf oder dreizehn und in einen Unfall verwickelt. Ich weiß nicht, was mit ihr geschehen war. Sie befand sich in einem Zustand, den Sie sich gar nicht vorstellen können. Es ist niemand da gewesen, der zu ihr gehörte und sich um sie gekümmert hat. Ich habe sie aufgenommen. Das musste ich einfach, das arme kleine Ding.« Sie ließ Monk keine Sekunde aus den Augen. »Niemand hat je nach ihr gefragt oder nach ihr gesucht. Zu Anfang habe ich jeden Tag damit gerechnet, aber es vergingen Wochen und schließlich Monate, und niemand kam. Also habe ich einfach für sie gesorgt, als wäre sie mein eigenes Kind.«
    In Monk stiegen Erinnerungen auf: Er hatte in dem schmalen Bett gelegen und zur Decke hinaufgestarrt und sein erster Gedanke war gewesen: Ich bin im Arbeitshaus. Dann hatte er sich umgesehen, die in Reih und Glied stehenden Betten bemerkt und begriffen, dass es heller Tag war und in allen Betten Menschen lagen. In einem Arbeitshaus wäre so etwas undenkbar gewesen! Er musste sich also in einem Hospital befinden. Aber er konnte sich an nichts erinnern! Nicht einmal an seinen Namen. Nichts war je zurückgekehrt, nur Bruchstücke hier und da, Ängste und Träume, Einzelheiten, nach denen er zu greifen versuchte, Gefühle, die ihm jetzt abhanden gekommen waren. Konnte Miriam Gardiner etwas Ähnliches widerfahren sein? Kannte

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