In Gedanken bei dir (German Edition)
sich ein Grinsen. »Doch, im Ernst. Ein Fünf-Komma-Fünfer auf der
Richter-Skala, gefolgt von mehreren kleinen Nachbeben. Hier knirscht es öfter,
weißt du. In der letzten Woche gab es zwei Beben, im letzten Monat dreizehn, im
letzten Jahr zweiundzwanzig. Die Erdstöße von gestern nicht mitgerechnet. Der
Mount St Helens sitzt auf einem gefährlichen Hot Spot.«
»Mit
anderen Worten: Der Berg lebt, die Erde bebt?«
»Genau,
der Berg lebt. Hey, im Internet kannst du dir das Audio des Ausbruchs von 1980
anhören. Das ist total irre, sag ich dir. Die Aufnahme mit einem
Cassettenrecorder hört sich an wie der Herzschlag des Vulkans.« Alex legte
seine geballte Faust auf ihre Brust. »Bumm ... elf Sekunden Stille ... bumm ...
sieben Sekunden ... bumm ... sechs Sekunden ... bumm ...« Mit jedem Donnern des
Vulkans schlug er seine Faust leicht gegen ihre Brust, damit sie das lebendige
Pulsieren des Vulkans spüren konnte.
Cassie
packte seine Faust an ihrer Brust und hielt sie fest. »Aber ... das Beben
gestern ...« Sie schluckte trocken. »Alex, ich dachte ... Bei Wikipedia steht,
dass das US Geological Survey den Mount St Helens 2008 auf die unterste
Warnstufe zurückgestuft hat.«
»Stimmt.«
»Und
das heißt?«
»Okay,
Klartext: Es ist keine Frage, ob er wieder ausbricht. Sondern wann er wieder ausbricht.«
»Und
du würdest vermutlich nur zu gern eine neue Eruption erleben.«
»Aber
sicher, ich will doch wissen, ob meine Forschungsergebnisse stimmen.«
»Du
spinnst, echt!« Entnervt schüttelte Cassie den Kopf, stapfte durch das lose
Geröll, hockte sich hin und schlitterte auf allen vieren die steile Böschung
hinunter zum Toutle River.
Angst
– das war das vorherrschende Gefühl in unserer Ehe, die Angst um den anderen.
Wie es scheint, hat sich daran nichts geändert. Liebt sie mich noch? Und ich,
was empfinde ich für sie?, fragte Alex sich beunruhigt.
Am
Fluss wartete Cassie auf ihn, beide Hände in die Hüften gestemmt. »Und jetzt?«
Alex
deutete flussaufwärts. »Da lang.«
»Na,
hoffentlich bricht der Vulkan nicht aus, bevor wir nah genug sind ... Stell dir
vor, du verpasst die pyroklastischen Ströme oder die fliegenden Felsen aus dem
Kraterrand ...«
Er
konnte nicht anders, er prustete los. Lachend packte er sie bei den Schultern
und schob sie vor sich her den Fluss entlang. Dann ging er neben ihr, und seine
Hand, die ihren Nacken streichelte, rutschte wieder tiefer und blieb auf ihrer
Hüfte liegen.
Sie
sah ihn von der Seite an, sagte aber nichts – auch nicht, als er sie auf die
schwarzen, roten und weißen Felsen neben dem Flussbett aufmerksam machte. Oder
auf die bunten Muren, eingestürzte Geröllhalden an den Ausläufern der Lawine,
die ein bisschen an die Painted Desert in Arizona erinnerten, in der sie
gemeinsam gewandert waren. Die Mounds, nicht weit entfernt, sahen aus wie die
Sandhügel, die Jordan vor kurzem mit seinem neuen Lego-Bulldozer im Sandkasten
aufgeschüttet hatte.
Sie
erreichten The Horse Shoe, eine hufeisenförmige Biegung der Schlucht. Auf einem
bemoosten Stein in der Strömung des Toutle River hockte ein Rotkehlchen. Cassie
blieb wieder stehen, um ein Foto zu machen. Dann zog sie die zerknüllte Tüte
aus der Tasche und schüttete die letzten Krümel des Trail Snacks in ihre Hand.
»Nimmst
du mal mein Handy?« Sie drückte Alex ihr Smartphone in die Hand und hockte sich
mit der ausgestreckten Hand auf einen Felsen am rauschenden Wasser.
Na,
was? Das Rotkehlchen landete auf ihrem Daumen und pickte einen Mandelsplitter.
Dann ein Haferkorn. Und eine getrocknete Beere. Cassie hielt ihre Hand ganz
ruhig, der kleine Vogel balancierte auf ihrem Finger, der kleine Kopf ruckte
hin und her. Das Rotkehlchen guckte erst sie, dann ihn an, und es flog nicht
weg, als Alex mit Cassies Smartphone ein Video drehte. Der Vogel plusterte sein
Gefieder auf, sah wieder Cassie an – Alex zoomte zurück, damit auch sie auf dem
Clip zu sehen war. Das Rotkehlchen pickte ein letztes Mal, dann drehte es sich
auf ihrem Daumen um, breitete die grauen Flügel aus und flog davon.
Cassie
schüttelte die letzten Körner ab und wusch sich die Hände im Fluss. Dann trank
sie einen Schluck aus der offenen Hand.
»Guck
mal.« Auf dem Display zeigte er ihr die Aufnahme, die richtig gut geworden war.
»Danke,
Alex.« Wieder versuchte sie, das Foto und das Video zu versenden, aber sie fand
hier unten kein Netz.
Wem
wollte sie den Bären und das Rotkehlchen schicken? Alex nahm sein
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