In Gottes Namen
zu sprechen. Sie war schließlich ihre beste Freundin. Und ich wollte keine Fragen beantworten müssen. Ich war ohnehin nur kurz in der Stadt, also bestand kein Grund, warum ich nicht wieder verschwinden sollte.«
Ich blicke kurz über die Schulter zu Natalia, die wie erstarrt am Fenster steht, und dann wieder zu Gwendolyn. In ihren Augen glitzern Tränen, ihre Haut ist von einer gespenstischen Blässe, trotzdem wirkt sie erleichtert.
»Und was dann?«, frage ich Gwendolyn, meine aber eigentlich beide Frauen.
Gwendolyn schüttelt den Kopf, blinzelt die Feuchtigkeit in ihren Augen weg. »Nichts weiter. Ich bin abgereist. Tante Natalia und Cassie haben sich still verhalten und auf das Eintreffen der Polizei gewartet. Aber die kam nie. Also lebten sie weiter wie zuvor … bis Cassie ermordet wurde.«
Ich schüttle den Kopf, als würden mir immer noch ein paar Puzzleteilchen fehlen.
Gwendolyn zuckt mit den Achseln. »Terry Burgos muss irgendwas davon mitgekriegt haben. Er hat doch Ellie verfolgt, oder? Er muss die Tat beobachtet haben. Und dann hat er Cassie dafür umgebracht. Oder wie sehen Sie die Sache, Mr. Riley? Man wird es wohl nie herausfinden.«
Man wird es nie herausfinden? Das glaube ich weniger. Die beiden Frauen hier im Raum wissen jedenfalls eindeutig mehr darüber. Und ich würde gerne den Rest der Geschichte erfahren.
»Und was ist mit Leo Koslenko?«, frage ich.
»Er wusste auch davon. Cassie hat uns allen dreien davon erzählt.«
Ich breite fragend die Hände aus. »Und?«
»Nichts weiter.« Sie zuckt mit den Achseln. »Er hat nichts getan.«
»Wir haben keine Ahnung, warum Leo jetzt diese Verbrechen begeht«, wirft Natalia ein, die sich vom Fenster abgewandt hat. »Wir glauben, dass er versucht, auf irgendeine Weise Cassie zu schützen.«
Eine unbefriedigende Erklärung, aber nicht weiter überraschend. Sie wissen mehr, als sie zugeben, aber in diesem Punkt habe ich keine wirkliche Hilfe von ihnen erwartet.
Und ich bin auch nicht wegen dieser Geschichte hier. Sondern vor allem wegen zwei Dingen. Nummer eins hat sich bereits durch mein bloßes Auftauchen hier erledigt. Punkt zwei werde ich gleich in Erfahrung zu bringen.
»Also wird meine erste Amtshandlung als Sonderermittler sein, Terry Burgos offiziell zu entlasten und Cassie als die wahre Mörderin von Ellie zu benennen.«
»Ist das wirklich nötig?« Nat nähert sich mir. »Unter diesen Umständen …«
»Unter welchen Umständen?«, frage ich. »Sie hat kaltblütig einen Mord geplant. Das darf nicht …«
»Sie hat gar nichts geplant!« Gwendolyns Gesicht verfärbt sich dunkelrot. »Sie war keine eiskalte Killerin. Sie hat ihren Vater aus dem Apartment ihrer besten Freundin kommen sehen, Mr. Riley. Sie können sich nichts Abstoßenderes, nichts Ekelhafteres vorstellen …«
Sie unterbricht sich, bedeckt die Augen mit einer Hand. Auch Natalias stoische Fassade beginnt zu bröckeln.
Doch ich muss jetzt all meine Erfahrung als Prozessanwalt aufbieten, mein langjähriges Training darin, inmitten überraschender Entwicklungen die Ruhe zu bewahren, meine gesamte Routine im Unterdrücken von Gefühlen und der Vorspiegelung völliger Gelassenheit. Meine Glieder beginnen zu zittern. Am ganzen Körper bricht mir der Schweiß aus. Ich muss gehen. Ich muss sofort hier raus. Ich glaube, ich kriege kein Wort mehr raus, so wild jagt das Adrenalin durch meinen Kreislauf.
Ich entferne mich von den Frauen in Richtung Tür. Natalia ruft mir hinterher: »Bitte, denken Sie darüber nach, Paul«, oder irgendwas in der Art. Ich kann sie schon nicht mehr hören. Denn ich bin plötzlich erfüllt von einer so überwältigenden Hoffung, dass ich mich dazu zwingen muss, einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Sie haben mir eine Menge Stoff zum Nachdenken aufgetischt, vieles davon Lügen und Täuschungsmanöver. Aber zwischen den Zeilen haben sie mir etwas verraten, das viel wichtiger ist als das, was vor sechzehn Jahren geschah.
Shelly könnte noch am Leben sein.
51. Kapitel
Da kommt er. Er kommt. Jetzt ist er auf unserer Seite. Wieder auf unserer Seite. Er hat mit Mrs. Lake gesprochen. Sie hat alles geregelt. Und jetzt wird er alles in Ordnung bringen. So wie er es schon einmal getan hat.
Leo hebt die Zeitung vors Gesicht, als Rileys Wagen vorbeifährt und in die Browning Street einbiegt.
Was hat sie ihm erzählt?
Weiß er alles?
Was wird er jetzt tun?
Folge ihm. Aber nicht zu dicht. Du musst abwarten und beobachten.
Was soll ich als Nächstes
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