In Gottes Namen
ich spät dran bin. Wahrscheinlich haben sie schon alles, was sie brauchen.
Joel knufft mich leicht in die Seite. »Weißt du, was seine Henkersmahlzeit war?«
Ich schüttle den Kopf, obwohl ich es weiß.
»Tacos«, verkündet er strahlend.
Um 11.45 Uhr werden wir in den Raum für bestellte Zeugen geführt. Er ist kaum größer als ein Wohnzimmer, ohne jeden Schmuck; grau gestrichene Wände, zwei Sitzreihen, die hintere Reihe eine Stufe erhöht. Erst weiß niemand so genau, wo er sich hinsetzen soll, dann stürzen sich alle auf die hintere Reihe, als könnte sie eine gewisse Distanz zum Geschehen gewährleisten. Ich lasse den Angehörigen der Opfer den Vortritt und erwische am Ende einen Platz in der ersten Reihe zwischen Joel und Carolyn Pendry, einer Fernsehreporterin von Newscenter 4. Von meinem Platz aus habe ich freie Sicht auf das vom Boden bis zur Decke reichende Fenster zum Nachbarraum, das im Moment noch von einem grünen Vorhang verhüllt ist.
Mich beschleicht das merkwürdige Gefühl, im Kino zu sitzen; als hätte ich mich gerade auf meinem Platz gemütlich eingerichtet und würde jetzt darauf warten, dass sich der Vorhang öffnet. Es gibt einen Tisch mit Wasserkrügen und Kaffee – wer braucht in dieser Situation noch Koffein? -, aber sonst keine Erfrischungen. Joel Lightner hat mich gestern tatsächlich gefragt, ob er Popcorn mitbringen soll.
»Haben Sie nachher schon was vor?«, flüstert mir Carolyn Pendry, die Reporterin, mit bebender Stimme ins Ohr. Sie ist eine der vielen hübschen Journalistinnen der Stadt, groß und blond, mit hohen Wangenknochen. Sie ist komplett geschminkt und frisiert, genau wie die anderen Reporter, die später ihren Kommentar in die Kamera sprechen werden. Sie will einen Witz machen, versucht cool zu wirken. Tatsächlich werden Joel und ich hinterher zusammen ein Steak essen gehen, aber das werde ich ihr nicht auf die Nase binden.
Carolyn beugt sich zu mir herüber. »Was hat er Ihnen gestern gesagt?«
»Kein Kommentar.« Als gute Journalistin weiß Carolyn, dass Burgos mich gestern zu sich gebeten hat. In diesem Staat wird der zum Tode Verurteilte in den letzten drei Tagen vor der Hinrichtung in einen Bereich verlegt, den sie »Deathwatch« nennen – vier direkt an die Todeskammer angrenzende Zellen, wo er rund um die Uhr unter der Beobachtung von Vollzugsbeamten steht, die in Zwölf-Stunden-Schichten arbeiten. Dort können die Verurteilten zwei Besucher pro Tag empfangen. Ich war sein einziger Besucher. Mein Aufenthalt dauerte nicht länger als fünf Minuten.
Die nächsten Augenblicke hier im Zuschauerraum sind etwas befremdend. Die Strafvollzugsbehörde hat zwar ein strenges Reglement für den Ablauf der Hinrichtungen aufgestellt – vom letzten Gespräch mit dem Geistlichen, der letzten Mahlzeit, dem »Todesmarsch« aus der »Deathwatch«-Zelle in den Trakt J bis zum offiziellen Anruf des Commissioners, wegen möglicher Gründe für einen Aufschub -, aber eine Handhabe dafür, wie man einem Mann beim Sterben zusieht, gibt es nicht. Wir rutschen unruhig auf unseren Stühlen herum. Besonders die Reporter, die über das Ganze berichten müssen, fühlen sich unwohl in ihrer Haut. Freilich springt bei der Sache garantierte Sendezeit für sie heraus und anschließend vielleicht noch eine Sondersendung über die verübten Verbrechen oder allgemein zum Thema Todesstrafe, aber dennoch bereitet ihnen das Ganze kein sonderliches Vergnügen.
Um zehn vor zwölf teilt sich der Vorhang vor dem Fenster, ein Vollzugsbeamter zieht ihn per Hand auf. Neben mir zuckt Carolyn zusammen. Die Zeugen schnappen nach Luft, stöhnen, sogar ein kurzes Aufschluchzen ist zu vernehmen. Die Menschen in der hinteren Reihe blicken auf den Mann, der ihre Töchter ermordet hat.
Es ist ein großer Raum, in dessen Mitte eine kleine Kammer steht. Eine blassgrün gestrichene achteckige Box, etwa ein Meter achtzig breit und zwei Meter fünfzig hoch. Der Eingang besteht aus einer Stahltür mit Gummidichtungen, die mit einem großen Sperrrad verriegelt ist. An den übrigen sieben Seiten befinden sich Fenster, so dass alle im Beobachtungsraum den Verurteilten gut sehen können.
Terry Burgos trägt nichts außer weißen Boxershorts. Er sitzt auf einem Metallstuhl, mit Lederriemen über Ober- und Unterschenkeln, Armen, Hüften, Brust und Stirn. Ein Stethoskop mit einer Verlängerung nach draußen ist an seiner behaarten Brust befestigt, damit ein Arzt Burgos’ Tod bestätigen kann, ohne die Gaskammer
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