In Gottes Namen
hat; aber ich starre unverwandt zurück. Vielleicht schulde ich ihm das. Möglicherweise sollte jeder Strafverfolger dem Menschen in die Augen schauen müssen, den er verurteilt hat. Vielleicht bin ich ja deshalb hier und vielleicht habe ich deshalb gestern auch eingewilligt, ihn zu besuchen. Seine Zunge quillt zwischen den dünnen Lippen hervor. Er blinzelt, wohl unfreiwillig. Kein menschliches Wesen, wie psychotisch auch immer, kann angesichts einer solchen Strafe ungerührt bleiben. Seine Finger trommeln auf die Armlehnen. Seine Zehen zucken. Seine Brust hebt und senkt sich. Er schwitzt heftig, was bei einem halb nackten Mann kein schöner Anblick ist.
»… und Sie haben nun das Recht, Ihre letzten Worte zu sprechen.«
Absolute Stille. Terry Burgos hat sich nie entschuldigt, kein Wort der Reue ist je über seine Lippen gekommen. Doch genau darauf warten die Familien, nehme ich an. Irgendetwas, irgendein Zeichen, das ihren Schmerz lindern könnte.
Seine Lippen öffnen sich, aber er bleibt stumm. Unverwandt starren wir einander in die Augen. Es scheint, als bekämen die Familien nicht das, worauf sie warten. Was immer er zu sagen hat, er wird es nur mir sagen.
Der Vollzugsbeamte ist unsicher, wie er weiter verfahren soll. Er will Burgos zumindest das noch zugestehen, eine letzte Gelegenheit, etwas gutzumachen oder seinen Frieden zu finden. Vielleicht mag er den Kerl sogar, auf irgendeine verquere Art. Immerhin hat er hier im Todestrakt die letzten sieben Jahre mit ihm verbracht. Die meisten Typen in Isolationshaft wenden sich irgendwann Gott zu, oder sie verlieren einfach den Kampfgeist, so dass sie recht umgängliche Gefangene abgeben.
Der Beamte späht schließlich zum Gefängnisdirektor hinüber, der einen Finger reckt, und alle warten gespannt.
Terry Burgos räuspert sich mühsam. Irgendwo drüben im Westen soll ein Kerl bei seinen letzten Worten fast zwanzig Minuten lang herumgestottert haben.
Eine weitere lähmende Minute verstreicht, in der Burgos und ich uns anstieren. Ich suche in seinen Augen nach einem hämischen Triumphieren, nach Hass, nach Angst. Stattdessen entdecke ich nichts als kindliches Erstaunen, einen fast hypnotischen Ausdruck.
Der Wachmann tritt näher an die Glaszelle. »Terry, haben Sie noch irgendwas zu sagen?«
Burgos schüttelt langsam den Kopf, so gut er das in seinen Fesseln vermag. Die Augen immer noch auf mich geheftet, öffnet er erneut den Mund. Stumm spricht er zu mir, seine Lippen bewegen sich, ebenso wie seine Zunge und die Zähne. Ich bin nicht gut im Lippenlesen, aber ich weiß, was er sagt.
Der Direktor, der Burgos von seinem Platz aus nicht sehen kann, versteht sein Schweigen als Nein, und er gibt dem Vollzugsbeamten das Zeichen, der wiederum den Wärtern signalisieren wird, mit der Exekution zu beginnen.
»Der Gefangene verzichtet darauf, letzte Worte zu sprechen«, verkündet der Vollzugsbeamte.
Hinter mir ein Aufschluchzen. Einige Angehörige hätten gerne noch Worte der Reue gehört. Andere dagegen hatten offenbar eine Art Selbstrechtfertigung befürchtet und sind über deren Ausbleiben erleichtert. Auf jeden Fall täuscht sich der Vollzugsbeamte. Terry Burgos hat nicht auf eine letzte Äußerung verzichtet. Er hat sie lautlos in meine Richtung gemurmelt, an die Adresse des Mannes, der ihn auf diesen Stuhl gebracht hat.
Dieselben Worte, die er mir gestern in seiner Zelle anvertraut hat.
Ich bin nicht der Einzige.
Sonntag, 5. Juni 2005
Der zweite Vers
9. Kapitel
Die Qualität der Bilder auf dem Fernsehschirm ist deutlich schlechter, immerhin sind sie auch schon acht Jahre alt. Oben rechts ist das Datum eingeblendet: 1. Juni 1997.
Carolyn Pendry, in einem blauen Kostüm und mit cremefarbener Seidenbluse, hat professionell die Beine übereinandergeschlagen und einen Notizblock im Schoß. »Danke für Ihre Bereitschaft, mit mir zu sprechen, Mr. Burgos«, beginnt sie.
Schnitt auf ihn. Der verurteilte Mörder Terry Burgos hockt zusammengesunken da, in einem orangefarbenen Overall. Sein schütteres Haar ist ordentlich gescheitelt, sein Gesicht rund und aufgedunsen, von der übermäßigen und ungesunden Gefängniskost. Seine Augen liegen tief in den Höhlen und sind von durchdringendem Schwarz; ansonsten ist seine Miene ausdruckslos.
»Mr. Burgos, in vier Tagen sollen Sie hingerichtet werden. Das Büro des Revisionsanwalts hat gegen Ihren Willen erneut Berufung beim Bundesgericht eingelegt. Was sagen Sie dazu?«
Burgos blinzelt und blickt beiseite. Er
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