In grellem Licht
Mit
sechsunddreißig würde John auch nicht mehr aufhören,
Verantwortung auf andere abzuwälzen, wann immer es ging. Nicht,
ehe Laurie ihn tatsächlich verließ. Und da sollte Gott vor
sein.
»Laß mich mit ihr reden«, sagte ich.
»Ich hole sie.«
Eine Pause, und dann Lauries Stimme, belegt, aber nicht
hysterisch. »Dad? Danke, daß du einverstanden bist, mich
am Flughafen zu treffen. Ich weiß das wirklich zu
schätzen, wo du doch so in Eile bist.«
Also hatte John mir die Entscheidung aus der Hand genommen. Ich
sagte: »Für dich bin ich nie zu sehr in Eile, Laurie.«
Wenn es sein mußte, würde ich meinen Flug nach Atlanta
umbuchen. Sallie würde es verstehen. »Weißt du, wo am
Inlandsflughafen die Wright-Bar ist? Beim Terminal A?«
»Ja.« Sie bemühte sich hörbar, normal zu
klingen.
»In einer halben Stunde bin ich dort.«
»Danke, Dad.« Plötzlich – und völlig
uncharakteristisch für sie – klang sie wie ein kleines
Mädchen. Ich unterbrach die Verbindung, ehe ich noch einmal mit
John sprechen mußte, griff nach meiner Tasche und ging zur
Tür. Fast hatte ich es geschafft, als der Wandschirm
aufleuchtete und Shanas schönes, seelenloses Gesicht
erschien.
»Hallo, Nick. Das ist eine Aufzeichnung. Sie werden
vermutlich gerade zum Flughafen aufbrechen, also mache ich es kurz.
Ich werde ein paar Tage lang nicht nach Hause kommen. Ich besuche ein
paar ZD-Kumpel in Philadelphia. Seien Sie unbesorgt, ich werde
rechtzeitig für die Anhörung vor Gericht zurück sein,
ich lasse Sie nicht hängen. Sie kriegen Ihr Geld zurück.
Sonst ist alles okay.« Sie zwinkerte.
Ich hätte sie liebend gern erwürgt. Zweifellos besuchte
sie keine Freunde vom Zivildienst, war auch nicht in Philadelphia und
würde nicht zum Anhörungstermin zurück sein. Nur Gott
wußte, was sie wirklich tat. Aber ich konnte nichts dagegen
unternehmen, dazu hatte ich keine Zeit – und das wußte
sie.
Daß manchen Leuten die Fähigkeit, sich zu
reproduzieren, abhanden gekommen war, könnte für die Rasse
als Ganzes ein evolutionärer Vorteil sein.
Als ich durch den Flughafen hinkte, tat mir zwar das rechte Auge
weh, meine Sehkraft schien sich ungeachtet dessen jedoch
verstärkt zu haben. Ich bemerkte einfach alles:
Die Vielzahl der Rollstühle, die meisten davon besetzt.
Den rapide dahinschwindenden Stapel von großgedruckten
Zeitungen. Die Jungen zogen es vor, die Neuigkeiten vom Net zu
erfahren.
Die stolze junge Mutter auf einem Stuhl in der Ecke, die ihrem
Kind diskret – aber nicht zu diskret – die Brust gab und
die neidischen Blicke ihrer Umgebung genoß.
Den Zehnjährigen, der einen Wutanfall bekam, weil sein Vater
ihn nicht auf ein hohes Geländer klettern ließ.
Das Kleinkind mit den leeren, starren Augen.
Die helle Beleuchtung, die soviel heller war als damals in meiner
Jugend. Bei den alten Menschen waren manchmal nur noch zehn Prozent
der ursprünglichen Netzhautstäbchen und -zapfen
vorhanden.
Die stolzgeschwellte Schwangere, die, ob sie es wußte oder
nicht, ein nahezu fünfundzwanzigprozentiges Risiko einer
Fehlgeburt hatte.
Ich bemerkte all diese Dinge, der Beirat nicht – jedenfalls
nicht durchweg, nicht alles zugleich, nicht als Teil einer
Gesetzmäßigkeit. Dort weigerte man sich einfach, es zu
bemerken.
Seit zweihundert Jahren schleudern wir synthetische Chemikalien in
die Welt, und seit fast hundert Jahren fürchten besorgte
Menschen, daß diese Chemikalien Krebs auslösen
könnten. Aber niemand bekam jetzt mehr Krebs. Die
Behandlungsmethoden – das Isolieren, Abgrenzen und
Zerstören eines Tumors – waren zu wirksam. Der Krebs war
besiegt, und in einem Land mit einer ernsten finanziellen und
demographischen Krise wollte niemand glauben, daß diese
verteufelten Chemikalien nicht auch komplett besiegt waren. Die
Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit hatte sich längst anderen
Dingen zugewandt.
Aber die Chemikalien, die im Tier das System endokriner
Drüsen störten, gab es immer noch. Der Körper baut
solche Chemikalien nur langsam oder überhaupt nicht ab. Das
wußten die Wissenschaftler natürlich, aber in Zeiten
gekürzter Ausgaben selbst für dringliche Forschungsprojekte
stellte dieser Umstand keine medizinische Priorität dar.
Schließlich starb man daran nicht. Die Menschen blieben gesund
und stark.
Außer – nun, Föten sind eben noch keine fertigen
Menschen. Selbst Kleinkinder sind weit davon entfernt, neurologisch
komplett ausgebildet zu sein. Es sind Menschen-im-Werden, und schon
eine
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