In grellem Licht
winzige Dosis einer synthetischen Chemikalie, die perfekt in
einen endokrinen Rezeptor paßt – eine Dosis, die ein
erwachsener Körper nicht einmal wahrnehmen würde –,
erwies sich im Mutterleib als folgenschwer. Oder in der
Entwicklungsphase eines Kindes. Bei einigen endokrinen Disruptoren
reichte eine Dosis von zwei Teilen pro Milliarde. Und die meisten
Disruptoren segelten mühelos auf dem Wind. In zweihundert Jahren
war es ihnen gelungen, die Erde mit erstaunlicher
Gleichmäßigkeit zu überziehen.
Die stolze junge Mutter, die ihrem Baby die Brust gab, gab ihm
damit auch – ob hier oder in Brasilien – riesige Dosen
synthetischer endokriner Disruptoren. Sie reicherten sich im
Körperfett an, selbstverständlich am stärksten am Ende
der Nahrungskette, und Muttermilch ist nun einmal sehr fettreich.
Der Zehnjährige mit dem Wutanfall mochte – ob hier oder
in Djakarta – an einer neurologischen Schädigung oder einer
Lernschwäche leiden. Endokrine Disruptoren greifen das Gehirn
an.
Das Zweijährige mit dem leeren Blick war – hier oder in
London – nur eine statistische Größe in der stark
ansteigenden Zahl von Geburtsfehlern. Im Mutterleib ist das Timing
das Um und Auf. Eine kleine Dosis endokriner Disruptoren kann auch
beim besten genetischen Bauplan eine mangelhafte Ausführung zur
Folge haben.
Die schwangere Frau, die eine Fehlgeburt erlitt, was – hier
oder in Tokio – heutzutage jede vierte Schwangerschaft beendete,
würde nie erfahren, was daran schuld war. Ebensowenig wie das
kinderlose Ehepaar, das – hier oder in Melbourne –
über Jahre hinweg sein Vermögen und sein Herzblut für
die vergeblichen Versuche opferte, ein Kind zu zeugen. Nichts in
Ihrer Umgebung, sagen die Ärzte, hat unter Laborbedingungen
derartige Auswirkungen; es gibt nichts, was wir nicht versucht
hätten, meine Liebe, manchmal muß man sich der Natur
beugen. Tut mir so leid für Sie. Falls irgend etwas Chemisches
solche Auswirkungen haben könnte, wäre es natürlich
umgehend vom Markt genommen worden. Die Tests der
Gesundheitsbehörde sind so streng wie nie zuvor. Alle
Umweltchemikalien werden auf Herz und Nieren geprüft.
Aber niemand prüft sie in Kombination miteinander. Das
ist einfach nicht möglich. Es gibt Tausende von
endokrin-disruptiven Chemikalien, was Milliarden möglicher
Kombinationen ergäbe. Und dazu kommt, daß für einige
Disruptoren die Tests, mittels derer man ausreichend kleine Dosen
nachweisen könnte, gar nicht existieren.
Dazu kommen außerdem die komplexen
Rückkopplungseffekte, die ein Disruptor auf andere haben
könnte. Endokrine Disruptoren, endokrine Blocker, endokrine
Disruptoren-Blocker – jede synthetische Verbindung reagiert
völlig unterschiedlich. Tests wären ein hoffnungsloses
Unterfangen.
Dazu kommt, daß man nicht vergessen darf, in welch
mannigfaltiger Weise die Störung vor sich gehen kann: indem
natürliche Hormone nachgeahmt und deren Rezeptoren verwendet
werden; indem natürliche Hormone daran gehindert werden, sich an
ihre Rezeptoren zu binden; durch ein direktes Reagieren mit den
Hormonen; durch das Verändern des Schemas der natürlichen
Hormonsynthese; durch das Stören der Verteilung natürlicher
Andockstellen für Rezeptoren; oder durch irgendeine Kombination
von allen.
Wozu also etwas in Angriff nehmen, wenn jeder Lösungsversuch
hoffnungslos ist? Wozu etwas publizieren, was man aus ethischen
Gründen im Labor nicht wiederholen kann? Warum sich mit
Kontrollmaßnahmen herumschlagen, die weder zu rechtfertigen
noch durchführbar sind – und für die man keinerlei
Unterstützung erwarten kann? Synthetische Chemikalien befinden
sich in allem, was wir Tag für Tag berühren. Wozu
sinnloserweise ihre Hersteller und Benutzer verärgern
(letztendlich mit Folgen für alle Industriezweige)? Warum die
Frauen verärgern (noch etwas, wofür wir Mutter die Schuld
geben können)? Im Grunde existierten ja gar keine hieb- und
stichfesten Beweise…
»Dad?«
Schließlich ist es ja nicht so, als würde an der DNA
herumgepfuscht werden. Und das Sinken der Samenfädenzahlen geht
zurück; vielleicht kehrt sich die Tendenz wieder um. Mutter
Natur ist phantasiereich. Die Fortpflanzung der Menschheit ist
unverwüstlich und unendlich anpassungsfähig.
Ja. Richtig. Genauso war’s bei den Dinosauriern.
»Dad?«
Ich war vor der Wright-Bar angekommen, und Laurie stand neben mir.
Sie trug einen dieser neuen Hüte – eine Art flachen Helm
mit einem Holoschleier, der auch langweilige
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