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In kalter Absicht

In kalter Absicht

Titel: In kalter Absicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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wieder zum Vorschein.
    »Er schläft hier«, sagte er halb entschuldigend und schaute den Jungen grimmig an, der lächelte und sich den Schnuller in den Mund steckte. »Er kann auf meinem Schoß liegen.«
    Der kleine Junge verschwand fast in den Armen seines Großvaters. Seine Nasenspitze schaute nur gerade eben über der grünen Schlummerdecke hervor. Seine Augen fielen nach wenigen Minuten zu, und er nuckelte nicht mehr so heftig. Yngvar zog ihm die Decke vom Gesicht. Die dunklen Haare sahen vor Yngvars weißem Gesicht fast schwarz aus. Die Wimpern des Kindes waren feucht und so lang, daß sie sich ineinander verhakten.
    »Kinder«, sagte Inger Johanne leise und konnte ihren Blick nicht von Amund abwenden. »Ich werde den Gedanken nicht los, daß der Schlüssel zu dem Fall bei den Kindern liegt. Zuerst … zuerst dachte ich, es gehe hier vor allem um die Kindheit des Mörders. Verlust. Sehnsucht. Sehnsucht nach der eigenen Kindheit. Und vielleicht …«
    Sie holte tief Luft.
    »Vielleicht habe ich recht. Aber das ist nicht alles. Etwas ist mit diesen Kindern. Obwohl es nicht seine sind. Es kommt mir vor, als …«
    Sie versank in Gedanken.
    Yngvar schwieg. Amund schlief tief. Inger Johanne schüttelte plötzlich den Kopf, riß sich aus ihren Gedanken los und sagte:
    »Hat er vielleicht ein Kind, das er nicht sehen darf?«
    »Jetzt gehst du ein bißchen zu weit, finde ich«, sagte Yngvar leise und legte den Kopf des Jungen bequemer hin. »Wie kommst du auf diese Idee?«
    »Sie würde passen. Zu allem. Sagen wir, dieser Mann kommt bei den Frauen gut an, kann sie aber nie lange an sich binden. Eine Frau wird schwanger. Sie will das Kind behalten. Aber die Vorstellung, daß er mit dem Kind zusammen ist, macht ihr angst. Sie könnte …«
    »Aber warum gerade diese Kinder? Wenn es stimmt, daß er sich Glenn Hugo, Kim, Sarah und Emilie bewußt ausgesucht hat, was ist dann mit ihnen? Wenn dieser Bursche seit Jahren alle möglichen Frauen geschwängert hätte und alle Opfer seine Kinder wären … aber das sind sie nun einmal nicht. Meines Wissens nach nicht. Warum also hat er sich gerade sie ausgesucht?«
    »Ich weiß nicht«, sagte sie müde. »Ich weiß nur, daß es einen Grund gibt. Dieser Mann hat einen Plan. In allem, was er tut, liegt eine Art absurde Logik. Obwohl er sich in mehrerer Hinsicht vom typischen Serienmörder unterscheidet. Zum Beispiel darin, daß die Entführungen offenbar keinem Muster folgen. Keinem Rhythmus, keinem erkennbaren System. Wir wissen nicht einmal, ob er fertig ist.«
    Wieder schwiegen sie beide. Yngvar wickelte Amund besser ein und legte die Lippen an den dunklen Kopf. Der Atem des Kindes war leicht und regelmäßig.
    »Das ist ja meine allergrößte Angst«, murmelte Yngvar. »Daß er noch nicht fertig ist.«
    In dem weißgestrichenen Haus anderthalb Fahrstunden von Oslo entfernt war der Mörder soeben von einem Waldlauf zurückgekehrt. Sein Knie blutete. Draußen war es dunkel, und er war über eine Baumwurzel gestolpert. Es war keine tiefe Wunde, aber sie blutete heftig. Pflaster bewahrte er normalerweise in der dritten Schublade neben dem Spülbecken auf. Die Packung war leer. Ärgerlich zog er eine sterile Kompresse aus dem Medizinschränkchen im Badezimmer. Er mußte sie mit Mull umwickeln, und das Heftpflaster war auch aufgebraucht. Natürlich hätte er so spät nicht mehr laufen sollen. Aber er war so unruhig. Er hinkte ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein.
    An diesem Tag war er nicht im Keller gewesen. Emilie widerte ihn jetzt mehr an denn je. Er wollte sie loswerden. Das Problem war, daß er das verdammte Kind nirgendwo abliefern konnte.
    »Am 19.   Juni«, sagte er halblaut und zappte einmal quer durch das Senderangebot.
    Dann würde alles zu Ende sein. Sechs Wochen und vier Tage nach Emilies Verschwinden. Er würde zuschlagen, das fünfte Kind holen und es noch am selben Tag abliefern. Das Datum hatte er nicht zufällig gewählt. Auf dieser Welt gab es keine Zufälle. Hinter allem steckte ein Plan.
    Der Chef hatte ihn am Freitag ins Büro gerufen. Und ihm eine schriftliche Abmahnung verpaßt. Und dabei hatte er nur etwas Werkzeug mit nach Hause genommen. Er hatte es nicht stehlen wollen. Erstens war es alt. Und außerdem wollte er es zurückbringen. Der Chef glaubte ihm nicht. Wahrscheinlich hatte ihn jemand verpfiffen.
    Er wußte, wer es auf ihn abgesehen hatte.
    Alles gehörte zu einem Plan.
    Aber auch er konnte Pläne machen.
    »Am 19.   Juni«, wiederholte

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