In kalter Absicht
er und schaltete auf die Textnachrichten um.
Bis dahin würde er Emilie loswerden müssen. Vielleicht war sie schon tot. Er würde ihr jedenfalls kein Essen mehr bringen.
Sein Knie tat unsäglich weh.
»Die Briefe«, sagte sie laut und unterbrach sich mitten im Satz.
Yngvar hielt noch immer Amund auf dem Schoß, als mache das Gespräch es unmöglich, ihn loszulassen.
»Die Briefe«, wiederholte sie und tippte sich an die Stirn. »Auf Aksels Schachtisch.«
»Jetzt kann ich dir nicht ganz folgen …«
Inger Johanne hatte Yngvar endlich von ihrem Ausflug nach Lillestrøm erzählt. Von der Verbindung zwischen dem zurückgebliebenen Anders Mohaug und dem Schriftsteller Asbjørn Revheim. Dem jüngsten Sohn von Astor Kongsbakken, Staatsanwalt im Prozeß gegen Aksel Seier. Yngvars Reaktion war schwer zu deuten, aber Inger Johanne glaubte auf seiner Stirn eine Falte zu sehen, die anzudeuten schien, daß die Zufälligkeiten ihm zu auffällig erschienen, um eben als Zufälle abgetan zu werden.
»Die Briefe«, wiederholte er mit verwunderter Stimme.
»Ja! Als ich bei Aksel Seier war, hatte ich danach das Gefühl, etwas gesehen zu haben, das nicht in sein Haus gehörte. Jetzt weiß ich, was das war. Ein Stapel Briefe auf dem Schachtisch.«
»Aber Briefe … Wir bekommen doch alle ab und zu einen Brief.«
»Die Briefmarken«, sagte Inger Johanne. »Das waren norwegische. Die Briefe waren mit Bindfaden zusammengebunden.«
»Mit anderen Worten hast du nur den obersten gesehen«, sagte Yngvar.
»Stimmt.«
Sie nickte und fügte dann hinzu:
»Aber ich bin ganz sicher, daß diese Briefe von ein und derselben Person stammen. Sie kamen aus Norwegen, Yngvar. Aksel Seier bekommt Briefe aus Norwegen. Er hat zu jemandem hier Kontakt.«
»Na und?«
»Mir gegenüber hat er das nicht erwähnt. Er schien in all den Jahren überhaupt nichts mehr mit Norwegen zu tun gehabt zu haben.«
»Also ehrlich …«
Yngvar schob sich das Kind in die andere Armbeuge. Amund grunzte, schlief aber immer noch tief.
»Du hast doch nur kurz mit dem Mann gesprochen. Es ist doch nicht weiter verwunderlich, daß er mit irgendwem Kontakt gehalten hat, mit einem Freund, einem Familienmitglied …«
»Er hat keine Familie in Norwegen. Nicht, daß ich wüßte.«
»Jetzt machst du einen großen Wirbel um etwas, für das es vermutlich eine ganz einfache Erklärung gibt.«
»Kann er … kann er von irgendwem Geld bekommen? Wird er dafür bezahlt, daß er keinen Ärger macht? Hat er deshalb nie nach Gerechtigkeit verlangt? Kann das die Erklärung dafür sein, daß er verschwunden ist, als ich ihm helfen wollte?«
Yngvar lächelte. Johanne gefiel der Ausdruck in seinen Augen nicht.
»Vergiß es«, sagte er. »Das klingt zu verschwörerisch. Ich kann dir etwas viel Interessanteres erzählen. Astor Kongsbakken lebt noch.«
»Was?«
»Ja. Er ist jetzt zweiundneunzig und lebt mit seiner Frau auf Korsika. Sie haben dort einen Hof, eine Art Weingut, wenn ich das richtig verstanden habe. Ich habe angenommen, daß er noch lebt, seine Todesnachricht hätte ich sicher registriert. Deshalb habe ich mich umgehört. Er hat sich vor über zwanzig Jahren aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und lebt seither dort unten.«
»Ich muß mit ihm sprechen.«
»Du kannst ja versuchen, ihn anzurufen.«
»Hast du auch seine Nummer?«
Yngvar schmunzelte.
»Irgendwo muß auch mal Schluß sein. Nein. Ruf die Auskunft an. Soviel ich gehört habe, ist er klar im Kopf, aber wackelig auf den Beinen.«
Yngvar erhob sich langsam und ohne den Jungen zu wecken. Er zog die Decke fester um ihn und schaute Inger Johanne fragend an. Sie nickte gleichgültig und holte Amunds Kleider aus dem Schlafzimmer.
»Ich bringe die Decke morgen zurück«, sagte er und gab sich Mühe, alles mit einem Griff zusammenzupacken.
»Ja, tu das«, sagte sie lahm.
Er stand vor ihr und sah sie an. Amund lag über seiner Schulter und murmelte im Schlaf. Der Schnuller war auf den Boden gefallen, und sie bückte sich danach. Als sie ihn Yngvar geben wollte, packte er ihre Hand und wollte sie nicht loslassen.
»Es ist wirklich nicht weiter auffällig, daß Astor Kongsbakken und Alvhilds Vorgesetzter eng befreundet waren«, sagte er eindringlich. »Viele Juristen kennen sich untereinander. Du weißt doch, wie das ist. Norwegen ist ein kleines Land. Und in den fünfziger und sechziger Jahren war es noch kleiner. Alle Juristen müssen sich damals gekannt haben.«
»Aber nicht alle Juristen waren in einen
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