In letzter Sekunde
einen größeren Raum, der wohl einmal das Esszimmer gewesen war. Aber jetzt stand dort ein ausladender Schminktisch. Ein Regal barg farbenfrohe Utensilien, wohl für ihre Show.
„Wenn ich mit Ihnen fertig bin, wird nicht einmal Blade Sie wieder erkennen", meinte Cass und deutete auf einen Stuhl. „Ach, was sage ich da - nicht einmal Ihre eigene Mutter!"
„Also ... genau das befürchte ich, wenn ich ehrlich bin", erwiderte Lynn, jedoch mit einem Lächeln, um Cass nicht zu verletzen. „Was genau haben Sie mit mir im Sinn?"
„Mensch, Sie sind ja noch konservativer, als ich dachte!"
„Ich habe ein normales Leben, zu dem ich bald zurückkehren werde. Zumindest hoffe ich es."
„Bestimmt. Unser letzter Fall fand auch ein glückliches Ende", versicherte ihr Cass.
„Der letzte ... die Frau, die zu Unrecht ins Gefängnis kam? Blade erzählte mir davon."
„Stimmt. Sie wurde damals fälschlicherweise wegen Mordes verurteilt, und wir..."
„Wegen Mordes? Sie meinen doch nicht den Fall Mitchell?" Die Zeitungen hatten wochenlang darüber berichtet.
„Elise Mitchell. Ich kenne sie von früher", erklärte Cass vage. „Ich habe einen völlig anderen Menschen aus ihr gemacht. Ein Blick, und Logan war hin und weg. Seitdem sind die beiden ein Paar. Können wir anfangen?" fragte sie dann.
„Sicher. Aber vergessen Sie bitte nicht, dass ich Anwältin mit einem seriösen Ruf bin."
„Den ich innerhalb von Minuten ruinieren kann." Cass machte eine kurze Pause, dann fügte sie hinzu: „Lynn, das war ein Spaß. Sie können jetzt lachen."
Lynn schaffte es gerade noch, eine Grimasse zu ziehen. Dann fiel ihr etwas ein. „Warum haben Sie mich konservativ genannt?" Hatte Blade ihr das erzählt? Aber wann?
„Ich ... habe so Ahnungen, Gefühle, was andere Menschen betrifft."
Lynn blieb ernst. „Sie meinen, Sie sind Hellseherin?"
„So mag ich mich nicht bezeichnen. Ich weiß nur manchmal Dinge, die andere Menschen nicht wissen."
„Und was wissen Sie über mich?"
„Dass Sie ein guter Mensch sind. Dass Sie vom Leben enttäuscht sind. Dass Sie die Dinge nicht so im Griff haben, wie Sie es glauben."
Gemeinplätze. Lynn lächelte. „So etwas passt auf Millionen von Menschen."
„Stimmt. Und Tausende haben in den letzten Jahren bestimmt jemanden verloren, den sie lieben. Aber nicht alle geben sich die Schuld daran."
Lynn starrte sie erstaunt an. Woher wusste Cass davon? Sie wechselte rasch das Thema.
„Womit beginnen wir?"
„Mit Ihrem Haar."
Zwei Stunden später musste Lynn zugeben, dass Cass ihr Handwerk verstand. Das jetzt kinnlange, fransig geschnittene Haar würde leicht zu einer anderen Frisur umzuwandeln sein, wenn alles vorbei war. Ihre silberblonde Haarfarbe hatte sie behalten, nur zierten sie jetzt ein paar schimmernde blaue Strähnchen. Mit etwas Make-up ließ Cass auch die leichte Verfärbung ihrer Wange verschwinden, die von dem Schlag herrührte. Sie trug einen pflaumenroten Lippenstift und leuchtend blauen Lidschatten auf und hielt ihr schließlich eine Sonnenbrille mit hellblauen Gläsern hin.
„Setzen Sie sie einmal auf."
„Aber ich trage keine Brille."
„Die hier gibt es ohne Rezept. Ihre Augen sehen dahinter grau statt blau aus."
Es stimmte. „Sie sind wirklich eine Zauberin, Cass."
Sollte einer ihrer Kollegen auf der Straße an ihr vorbeigehen, er würde sie nicht erkennen.
Was Blade zu der Verwandlung wohl sagte?
Sie überlegte, warum sie sich diese Frage stellte. Blade war doch nur ihr Leibwächter, mehr nicht. Das hatte er sehr deutlich gemacht.
Cass lenkte sie von ihren Gedanken ab. „Nun spielen wir Verkleiden."
Schon bald darauf wusste sie, was Cass damit meinte. Sie fand sich in ein paar Boutiquen wieder, in die sie selbst nie gegangen wäre. Aber es machte Spaß, mit der quirligen und fröhlichen Cass einzukaufen. Als sie dann in einem silberblauen Wickelrock und weißem bauchfreien Top die Straße entlangging, kam sie sich allerdings doch ein wenig nackt vor.
„Sie sollten sich noch den Bauchnabel piercen lassen", bemerkte Cass munter.
Lynn zuckte zusammen. „Das Ohrlochstechen war schon schlimm genug."
„Was halten Sie von einem Tattoo? Es könnte zur Not auch ein falsches sein."
Lynn warf einen Blick in das Schaufenster vor ihr und sah nichts mehr von der alten Evelyn Cross. „Ich glaube, schon so erkennt mich niemand."
Ehrlich gesagt, erkannte sie sich kaum selbst.
Blade fiel fast hintenüber, als Lynn ihm Cass' Haustür öffnete. Er pfiff anerkennend. „Wo
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