In Liebe, Rachel
schlafgewandelt und dabei meine Treppe hinuntergefallen. Die Psychiaterin sagt, dass das normal ist für ein trauerndes Mädchen.«
Durch die Satellitenverbindung hörte Jo ein unheilvolles Zischen. Vielleicht war es nur eine Störung in der Leitung. »Kate? Bist du noch dran?«
»Bring sie um Himmels willen nicht mehr zu dieser Psychiaterin«, sagte Kate.
»Ich …«
»Schau, manche Kinder brauchen solch eine Betreuung. Vielleicht braucht auch Grace sie irgendwann. Aber ich glaube einfach, dass man jetzt noch sehr viel machen kann … auch ohne Therapie und Medikamente.«
Erleichterung ergriff von Jo Besitz. Vielleicht hatte sie doch etwas richtig gemacht. »Ich habe die Medikamente abgelehnt. Aber sie schlafwandelt immer noch. Ich habe überall Gitter angebracht. Du weißt schon, diese Kindersicherung an der Treppe. Die Wohnung sieht wie ein verdammter Zwinger aus.«
»Vielleicht hast du es ein bisschen übertrieben. Aber besser zu viel als zu wenig. Hast du mich deshalb angerufen?«
»Nein. Okay … ja.« Jo blickte auf die auf dem Tisch verstreuten Unterlagen, die mit blauer Tinte vollgekritzelt waren. Telefonnummern von Nanny-Agenturen, Wäschereien, Nachhilfe-Instituten, Schulen, Kinderärzten. Bücher über die Erziehung von sieben bis zwölf Jahre alten Kindern. Auf ihrem Laptop war jede Webseite über das Muttersein geöffnet, die sie hatte finden können. Keine hatte ihr helfen können, aus Kleidergrößen für Kinder schlau zu werden. »Ich habe angerufen …« Sie wappnete sich gegen den Schlag. »Ich habe angerufen, weil ich dringend deine Hilfe brauche.«
Jo hielt den Atem an. Sie würde es Kate nicht vorwerfen, wenn sich die Freundin jetzt verbal auf sie stürzte. Sie hatte ihr gerade die ideale Vorlage geliefert, sich für viele Jahre anmaßende und herablassende Bemerkungen zu rächen. Jo erinnerte sich an jede einzelne.
Schätzchen, du kennst doch die Regeln: Beim Wein sprechen wir nicht über Ehemänner und Kinder. Sag mal, Kate, ist Paul wirklich so unfähig, dass er nicht einmal ein Kind zu einem Fußballspiel fahren kann? Süße, wenn du dich auf dem Altar der Mutterschaft opfern willst, dann tu das, aber erwarte nicht von mir, dass ich deswegen den Aperitif verschiebe.
Aber Kate war die einzige Vollzeitmutter, die sie kannte. Natürlich gab es auch in der Firma Mütter, doch die ignorierte Jo geflissentlich, weil sie immer so erschöpft und überarbeitet waren. Und was ihre eigene Mutter anging … nun, Jo war noch keine zwölf gewesen, als sich der Autounfall ereignet hatte.
Durch das Knistern in der Leitung hörte Jo ein gedämpftes Geräusch. Und noch eines. »Los, lass es raus, Kate. Es ist lächerlich, ich weiß.
Ich
bin lächerlich. Du hättest die Freaks sehen sollen, die sich als Nanny beworben haben. Eine von denen kam
ohne
Schuhe, kannst du dir das vorstellen?«
»Jo …«
»Und die Haare! Ich hatte angenommen, dass sich Grace selbst kämmt. Davon kann keine Rede sein. Und das bedeutet, dass das Haar etwa fünf Tage nicht gebürstet worden war. Ich habe es aufgeben müssen und bin zu Bangz – ja, der Friseur in Soho – gegangen und habe jemanden bezahlt, damit er ihr die Haare kämmt. Bei mir schreit sie wie am Spieß. Ich bekam Mario zugeteilt, der von Kindern etwa genauso viel versteht wie ich. Stell dir vor: Sie haben mir die dreihundert Dollar zurückgegeben, nur damit wir schnell wieder verschwinden.« Kate gab immer noch seltsame hicksende Laute von sich. »Rachel muss sich auf irgendeinem schneebedeckten Berggipfel etwas eingeworfen haben, als sie ihren einsamen Entschluss fasste. Sie hat wahrscheinlich geglaubt, das sei ein großer Spaß, aber ich bin davon überzeugt, dass man in Bezug auf Kinder eine wohldurchdachte Wahl treffen muss, und jetzt hat sie mir ihre Wahl einfach aufgebürdet. Wenn ich die nächste Woche überstehe, ohne das arme Kind zu töten, dann küsse ich den Boden zu deinen Füßen.«
»Willkommen in meiner Welt.«
Etwas in Kates gepresster Stimme ließ Jo stutzen. Durch die Geräusche des Fernsehers und das Knistern in der Leitung horchte sie genauer auf die gedämpften, rhythmischen Laute.
»Herrje, Kate, du weinst ja.«
»Nein, das stimmt nicht.« Kate schneuzte sich die Nase. »Ja, du hast recht, ja, ich weine.«
»Liebes, bist du betrunken?«
»Verdammt, ich wünschte, ich wäre es. Ich würde ja runter an die Bar gehen und mir einen Drink bestellen, wenn ich nicht wie ausgekotzt aussehen würde. Ich weine nicht, weil ich
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