In meinem kleinen Land
überraschenderweise haben alle reserviert, bloß ich nicht. Nachdem ich zweimal mit meinem Trolley («Entschuldigung», «Verzeihung», «Sorry») durch den Zug gerumpelt bin und dabei zwei Hunde und drei Füße überfahren habe, weiß ich nicht mehr weiter. Da öffnet sich die Tür eines blickdicht verhangenen Abteils, und ein Mann guckt mich an. Er hat einen ungeheuerlichen Schmiss auf der linken Wange. «Kommen Sie hier rein. Alles frei. Habe ich organisiert.» Schleierhaft, warum er gerade mir die Ehre, in seinem rollenden Büro zu reisen, zuteil werden lässt. Jedenfalls räumt er einen Fensterplatz von Akten frei, setzt sich an einen Gangplatz und lächelt mir zu. Dann arbeitet er.
Er telefoniert mit seiner Sekretärin. «Sagen Sie Geller, dass ich erst um fünf im Büro bin. Ja. Verspätung, halbe Stunde. Die Zahlen habe ich. Die auch, ja. Können Sie die mailen? Ich rufe wieder an.» Er hat einen blinkenden UMTS-Stecker an seinem Laptop. In den folgenden drei Stunden telefoniert er fünfmal. Knappe Anweisungen. Fragen. Nichts Persönliches. Er ist nicht unfreundlich, bloß präzise.
Er trägt einen guten Anzug, darunter ein blaues Hemd mit einem weißen Kragen, passende Krawatte, Manschettenknöpfe, Siegelring, Einstecktuch. Ich glaube nicht, dass er Golf spielt. Aber er hat auch kein Opern-Abo. Vielleicht eher kleines Jagdhaus bei Mittenwald. Geerbtes Ding in einiger Höhe, kommt man im Winter nur mit Allrad rauf. Das hat sein Vater noch gebaut. Als die Amis kamen, entfernten sie alle Hakenkreuze, aber die schmiedeeisernen Fenstergitter an den Oberlichtern des Kellers haben sie vergessen. Die Amerikaner verhafteten seinen Vater und nahmen ihn mit. Die Geschichte kennt er nur aus Erzählungen. Er ist 1950 geboren, ein Jahr nachdem der Vater wieder frei war. Und er, der Sohn, hat trotzdem in Amerika studiert. Er ist Amerika-Fan. Mit seiner Frau hat er sogar einmal eine Camperreise durch die USA gemacht. Da waren die Kinder noch klein. Da hatte er noch einen richtigen Sommerurlaub.
Ich wette, sein Blackberry piepst, wenn seine Sekretärin Geburtstag hat. Dann kauft er ihr Blumen. Die Sekretärin hat er bisher zweimal mitgenommen, als er gewechselt ist: von der Bank zur Versicherung und wieder zur Bank. Frankfurt, Köln, jetzt München.
Er ist seit siebenundzwanzig Jahren glücklich verheiratet und wohnt in Pullach. Oder in Solln. Seine Tochter studiert, er macht sich Sorgen wegen ihrer Partnerwahl. Alles Schlaffis. Kein Mann darunter. Sein Sohn ist zwanzig und nimmt Ecstasy. Sie hatten Diskussionen deswegen. Da hat sein Sohn ihn einen Nazi genannt, weil er ihm nahegelegt hat, in Tübingen zu studieren. Dort hätte der Sohn in der Verbindung wohnen können. Der Sohn hat ihm gesagt, er habe keinen Bock, auch mit so einer Frattenfresse rumzulaufen. Und auf die ganze BWL-Kacke auch nicht. Er wolle Stuntman werden. Der Vater hat ihm geantwortet, das sei ganz normal, und er würde ihn darauf nach dem Abitur noch einmal ansprechen. Und natürlich könne er Zivildienst machen, wenn er wolle. Seine Frau hat sich nicht getraut, ihm zu sagen, dass der Sohn schon seit zwei Wochen nicht mehr in der Schule war, weil er geflogen ist.
Ich kann im Zug nicht schlafen. Ich habe ein Erich-Kästner-Trauma. Seit meiner Kindheit ist es mir nicht möglich, in Zügen oder Flugzeugen ein Nickerchen zu machen, weil ich Angst habe, dass ich beklaut werde. Mein Geld steckt in der Innentasche meiner Jacke. Wie bei Emil Tischbein. Und mir gegenüber sitzt Herr Grundeis. Er tut bloß so, als sei er Manager. In Wahrheit ist er ein Dieb. Seine Telefonate sollen mich bloß einschläfern, so langweilig sind sie. Wenn ich penne, wird er mich ausrauben und in Ulm aussteigen. Ich bleibe wach. Unsere Wege trennen sich schließlich in München. Er verabschiedet sich freundlich und wünscht mir eine gute Heimfahrt. Was bin ich bloß für ein schlechter Mensch.
Abends Lesung in Gilching, das ist ein Vorort im Südwesten von München. Da kann ich mit dem Auto hin. Gilching ist nicht unbedingt der Überhammer, aber auch nicht schrecklich. Man sagt Gemeinde dazu. Nette Leute, die in München arbeiten. Eine Pendlerstadt. Es gibt hier alles, auch einen Flohmarkt, auf dem Familien alte Spielsachen verkaufen, eine anständige Pizzeria, eine S-Bahn-Haltestelle.
Berühmt sind in Gilching eigentlich nur eine alte Glocke sowie der kurze berufliche Aufenthalt von Joseph Ratzinger. Der war hier 1944 Flakhelfer. Der Sohn der Buchhändlerin ist nach dem
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