In Nomine Mortis
müder Geste und wandte
sich dann wieder Bruder Carbonnet zu. So gelangte ich denn endlich
unbehelligt wieder in meine Zelle. Dort schloss ich die Tür und holte
mit zitternden Händen den rätselhaften Schatz, den mir die junge
Jüdin überbracht hatte, aus seinem Versteck.
Die Weltkarte war schön
gemalt: die Berge rote Dreiecke, die Flüsse mäanderten gleich grünen
Schlangen durch die Länder. Ein Rahmen aus Tierkreiszeichen zierte
die Darstellung. Doch mich konnten der feine Strich und die leuchtenden
Farben, der kriegerische Schütze, der brüllende Löwe, nicht
einmal die schöne Jungfrau auch nur für einen Moment ablenken.
»HERR, hilf mir«,
murmelte ich und schlug das Kreuz. Lambert von Saint-Omer, das war selbst
für einen der geografischen Künste Unkundigen wie mich unschwer
zu erkennen, glaubte offensichtlich, dass unsere Welt keine Scheibe sei.
Sondern eine Kugel. Selbstverständlich war das Pergament flach und
also glich auch diese Mappamundi einer Scheibe. Doch ich sah, dass
sie eigentlich einen perfekten Ball darstellen sollte.
»Aber das ist Ketzerei«,
keuchte ich. War dies nie jemandem aufgefallen? Hatte nie ein gelehrter
Bruder Anstoß genommen? Wenn die Erde nämlich tatsächlich
eine riesige Kugel wäre, müssten dann nicht Menschen und Tiere
auf der unteren Seite hinabstürzen ins Firmament? Und wäre dann
noch Jerusalem der Mittelpunkt der Welt, wo doch die Oberfläche einer
Kugel gar keinen Mittelpunkt haben konnte? Hätte GOTT SEINE Welt so
schaffen wollen? Ich mochte es nicht glauben.
Der Text, der diese Karte erläuterte,
fand sich auf den folgenden Seiten. Lambert von Saint-Omer ließ
keinen Zweifel daran, dass er, so wie schon Aristoteles - das zumindest
behauptete der Verfasser —, die Erde für eine riesige Kugel
hielt. Er entschuldigte sich nicht einmal für diese Häresie,
frech klang dieser Chorherr, wie nur je ein Ketzer frech seine Irrlehren
verkündet haben mochte.
Ich wollte das Buch zuklappen
und angeekelt zu Boden werfen. Ja, ich spielte kurz mit dem Gedanken, es
in das Tuch zu wickeln, unauffällig in die Küche zu schaffen und
im Herdfeuer zu verbrennen. Doch dann erinnerte ich mich daran, dass
Meister Philippe mich gelehrt hatte, dass man auf das Werk der Sünde
blicken, ja es studieren musste, wenn man die Sünde ausmerzen wollte.
Hatte er sich nicht auch die grausigen Verletzungen Heinrichs von Lübeck
angesehen? Hatte er davor zurückgescheut, mit einer Schönfrau zu
reden? Durfte ich da diese ketzerische Karte in die Flammen werfen? Nein,
ich musste sie betrachten. Ich musste mir jede Einzelheit einprägen -
denn irgendwo in jener ketzerischen Mappamundi mochte der Schlüssel
verborgen liegen zu den abscheulichen Verbrechen, die unseren Orden
plagten.
Also schlug ich den »Liber floribus« wieder auf und zwang mich, die
Karte zu studieren, als sei es die Heilige Schrift. Ganz rechts hatte
Lambert von Saint-Omer den Südkontinent eingezeichnet - größer,
als ich ihn je in einer Karte gesehen hatte.
»Gemäßigt
ist er im Klima«, schrieb er dazu, »doch unbekannt den Söhnen
Adams. Nichts hat er mit der menschlichen Rasse gemein. Das Äquatormeer,
das hier die Welt zerteilt, ist nicht dem menschlichen Auge sichtbar. Die
volle Kraft der Sonne heizt diesen Ozean auf und erlaubt keine Reise zu
oder von der südlichen Zone. Dort aber, so glauben manche
Philosophen, lebt die Rasse der Antipoden, ganz verschieden von den
Menschen wegen der Unterschiede der Regionen und des Klimas. Denn wenn wir
geplagt werden von Hitze, leiden sie unter der Kälte. Und die nördlichen
Sterne, die wir unterscheiden können, sind ihnen gänzlich
verborgen. Tag und Nacht haben sie von gleicher Länge. Doch die
Eiligkeit der Sonne am Ende der Wintersonnenwende führt dazu, dass
sie jedes Jahr zwei Winter erdulden müssen.«
Woher mochte Lambert von
Saint-Omer diese Dinge wissen, die mir zudem reichlich verworren zu sein dünkten
— wenn doch, wie er selbst schrieb, noch nie ein Mensch jenen legendären
Äquatorozean gen Süden überquert hatte? Satan mochte ihm
dies eingeflüstert haben, denn wer sonst hätte sich durch diese
Hitze wagen können? In der Mitte der Karte waren mir die Länder
hingegen vertraut. Ich erkannte Europa, Asien und Afrika, dazwischen das
Mittelmeer. »Gallia, Comata, Troja«, las ich die Namen von Ländern
und Städten. Bei Afrika
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