In Nomine Mortis
hätte ein Engel
der Finsternis seinen eisigen Flügel über mein Gesicht
hinwegschweben lassen. Denn dort stand jener große, bärtige
Sergeant, der uns einst zum toten Heinrich von Lübeck geführt
hatte.
»Verzeiht, dass ich
Euch aus der Kirche holen lassen musste, Ihr Brüder«, begann er
und verneigte sich. Sein Atem stank noch stärker nach Knoblauch, als
ich es von unserer letzten Begegnung in Erinnerung hatte. Man sah ihm an,
dass ihn ein schlechtes Gewissen plagte und vielleicht auch die Furcht vor
uns oder jemand anderem. »Ich muss Euch sagen, dass wir soeben die
Schönfrau Jacquette gefunden haben.«
Ich schloss die Augen und
schickte ein stummes Gebet zu IHM.
Einen Moment war mir, als hätte
sich meine Befürchtung bestätigt und die junge Dirne wäre
in die Hände ihrer Häscher gefallen.
Doch es kam noch schlimmer.
»Sie ist tot«,
setzte der Sergeant tonlos hinzu.
Ich schwankte, als hätte
mir jemand aufs Haupt geschlagen.
»Fühlst du dich
nicht wohl, Bruder Ranulf?«
Wie aus großer Ferne
vernahm ich die Stimme des Inquisitors.
»Es ist nichts, Meister
Philippe«, antwortete ich. »Mich schwächt nur die drückende
Hitze.«
Von all den Lügen, die
ich dem Inquisitor bis dahin schon erzählt hatte, war keine wohl
weiter von der Wahrheit entfernt als diese. »Es ist nichts!«
Dabei war mir, als habe man mir das Herz aus dem Leib gerissen. Denn
wiewohl ich der jungen Dirne niemals beigewohnt, ja sie kaum einmal mit
der Kuppe eines Fingers berührt hatte, war sie mir doch zur ersten
Frau in meinem Leben geworden. Ja, bei ihrem Anblick hatte ich wie nie
zuvor an die Sünde der Wollust gedacht, sie hatte mich, genau wie es
unsere Kirchenväter beschrieben, auf den Abweg geführt, der nun
mein Seelenheil bedrohte. Und doch: Ich war glücklich in ihrer Nähe
gewesen und geehrt durch ihr Vertrauen. Ein Vertrauen, das sie mir
vergebens entgegengebracht hatte. Denn ich hatte sie nicht schützen können.
Ich hatte ihr keinen Ausweg gewiesen, nicht aus ihrer Seelenpein und nicht
aus Paris, wo ein dunkler Schatten sie bedrohte. Stumm betete ich für
ihre Seele und hoffte, dass Jacquette trotz aller ihrer Sünden in
SEIN Reich eingegangen war und teilhatte an SEINER Herrlichkeit.
Dann ermannte ich mich.
»Ich fühle mich stark genug für diesen Weg, Meister
Philippe«, sagte ich laut. Meine Stimme zitterte, doch ich
versuchte, energisch zu nicken.
»Gut«, antwortete
der Inquisitor, nachdem er mich einen Augenblick lang gemustert hatte,
»folgen wir dem Sergeanten!«
Der massige Uniformierte führte
uns quer durch die Stadt. Fahl war der Himmel über Paris, noch gab
kein Windhauch eine Erfrischung in der lastenden Hitze. Doch fern im
Westen stand ein schwarzer Strich am Horizont — und ich hoffte, dass
es Wolkentürme seien, die ein Gewitter bringen würden, das uns
abkühlte.
Und uns von allem Schmutz und
allen Sünden reinwusch.
»Sie haben sie am
Baudets-Tor gefunden«, sagte der Sergeant. »Es ist noch keine
Stunde her.«
»Wer hat Jacquette
entdeckt?«, fragte Meister Philippe. »Ein Färber namens
Durant de Brie«, bekam er zur Antwort. »Er wohnt im ›Haus
zum Bären‹ neben dem Tor und hat sie gesehen, als er ans
Fenster trat.«
»War sie da schon tot?«
Das Gesicht des Sergeanten rötete
sich noch stärker als zuvor. »Das haben wir nicht gefragt,
Herr. Doch wir haben den Färber festgehalten. Er wird Euch Auskunft
geben können.«
Wir legten den Rest des Weges
schweigend zurück. Es ging über die Seine, vorbei an Notre-Dame,
wo ich Jacquette das erste Mal gesehen hatte. Am anderen Ufer schritten
wir bis zur Rue Saint-Antoine, wo wir uns gen Osten wandten. Kurz vor der
Stadtmauer führte uns der Sergeant in eine Gasse, die parallel zur
großen Straße bis zur Befestigung lief und dort in ein kleines
Tor mündete. »Die Porte Baudets«, sagte der Uniformierte
und deutete nach vorne. Wir waren im Viertel der Gerber und Färber
und es stank nach verwesendem Fleisch, nach fauligem Leder und nach Urin
und all den anderen Ingredienzen, mit denen Tierhäute zu feinen
Schuhen, weichen Handschuhen und zu Pergament verarbeitet werden. Nur ein
paar Schritte entfernt Richtung Seine-Ufer lagen die Schlachthöfe, wo
wir Pierre de Grande-Rue aufgespürt und wieder aus den Augen verloren
hatten.
»Da liegt sie«,
sagte der
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