In Nomine Mortis
Schatten unter dem Erker eines Hauses einer Gestalt gewahr wurde:
Dort stand eine schlanke, offensichtlich junge Frau, die trotz der drückenden
Hitze einen hellen Schleier um das Haupt trug. Als ich an ihr
vorbeischritt, hob sie mit ihrer Linken kurz den feinen Stoff — und
ich erkannte Lea, die Tochter des Geldwechslers. Ich wäre vor Überraschung
fast gestolpert.
»Verzeiht, Meister
Philippe«, stammelte ich, »ich bin etwas ermüdet.«
Der Inquisitor lächelte mir gütig zu. »Du wirst gleich
ruhen dürfen, Bruder Ranulf«, erwiderte er.
Während wir an die
Klosterpforte klopften, blickte ich mich rasch noch einmal um: Lea hatte
den Schleier wieder vor ihr Gesicht gelegt. Sie wartete im Schatten des
Hauses.
Ich sah, dass sie wieder
keinen gelben Flicken auf ihrem Gewand trug. So fiel sie zwar weniger auf,
wenn sie durch die Straßen ging, doch ausgerechnet vor dem Kloster
der Dominikaner, der Heimstatt der Inquisitoren, ein derartiges Risiko
einzugehen …! Sollte sie jemand erkennen, würde sie
unweigerlich im Kerker enden. Schweiß brach mir aus, denn ich
wusste, dass ich mich beeilen musste. Jeder Augenblick, den ich zögerte,
vergrößerte die Gefahr für die junge Jüdin.
Also verabschiedete ich mich
im Kreuzgang von Meister Philippe und ging gemessenen Schrittes in meine
Zelle. Dort zählte ich im Geiste bis einhundert, dann spähte ich
vorsichtig wieder auf den Gang. Niemand war zu sehen.
Also eilte ich zurück,
durchmaß den Kreuzgang und grüßte an der Pforte den alten
Portarius. »Meister Philippe schickt mich noch auf einen Botengang«,
erklärte ich ihm, da mir auf die Schnelle keine bessere Ausflucht
einfallen wollte. Dann war ich draußen. Gemessenen Schrittes ging
ich die Rue Saint-Jacques hinunter Richtung Seine. Ich sah mich nicht um,
doch spürte ich, wie sich Lea, kaum dass ich sie passiert hatte, aus
dem Schatten an der Hauswand löste und mir dichtauf folgte.
»Ich bin so froh, dass
wir kurz miteinander sprechen können«, flüsterte sie.
»Wir haben nur ein paar
Augenblicke Zeit«, erwiderte ich. Dann setzte ich, weil dies so
kaltherzig klang, eilig hinzu: »Aber auch ich freue mich, dich
wieder zu sehen.« Und dies war keine Lüge.
Es war schön, die junge
Tochter des Geldwechslers hinter mir zu wissen, auch wenn ich nicht wagte,
den Kopf zu wenden. Nur gelegentlich, mit einem Blick aus den
Augenwinkeln, erhaschte ich eine Bewegung ihres grazilen Körpers;
ihre fein geschnittenen Züge waren unter dem Schleier gänzlich
verborgen.
Vielleicht waren es diese
Reize des Weibes, die mich, nachdem ich erst ein paar Schritte getan
hatte, eine Entscheidung treffen ließen. Vielleicht war es aber auch
ein Gefühl, das mir sagte, allein die kluge und mutige Jüdin könne
mir nun noch helfen. Jedenfalls entschloss ich mich, Lea das zu enthüllen,
was ich selbst dem Inquisitor Meister Philippe verschwiegen hatte.
In wenigen, hastigen Worten
erzählte ich ihr, unter welchen Umständen ich den Namen terra perioeci gelesen hatte. Ich berichtete vom »Liberfloribus« aus der Bibliothek ihres Vaters
— und von jener Handschrift aus dem Kollegium de Sorbon, in der
jemand jeden Hinweis auf das geheimnisvolle Land getilgt hatte.
Wir waren bis zum Petit Pont
gelangt, als ich mit meiner Geschichte zu Ende war. Ich verharrte einige
Augenblicke am Ufer, dann ging ich langsam wieder zurück; Lea folgte
mir stets. Ich konnte nur hoffen, dass wir keine Aufmerksamkeit erregten.
»Bruder Ranulf, ich
danke Euch für das Vertrauen, das Ihr in mich setzt«, flüsterte
die junge Jüdin und Freude durchströmte mich ob dieser lobenden
Worte.
Memores estote uxoris
Loth. Quicumque quaesierit animam suam salvare perdet illam et qui
perdiderit illam vivificabit eam. »Was soll ich nun tun?«,
setzte sie dann hinzu. »Ihr müsst mir helfen«, bat ich.
»Geht in die Bibliothek Eures Vaters und studiert dort alle Bücher.
Sucht nach der Terra perioeci. Auch der kleinste Hinweis mag wichtig sein. Auch der unbekannteste aller
Gelehrten, ja selbst die der Häresie verdächtigen Autoren mögen
uns etwas mitteilen, das uns helfen kann, das Geheimnis zu lösen.
Eilt abends, so wie heute, vor das Kloster, wenn Ihr etwas entdeckt habt.
Ich werde Euch finden und mit Euch sprechen können. Derweil werde ich
die Bibliothek des Kollegiums de Sorbon aufsuchen und
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