In Nomine Mortis
ab illo usque ad tempus.
Wir waren nun schon mehr als
die Hälfte der Kathedrale entlanggegangen und standen vor den
Kapellen, die sich, hinter einem Dickicht kühn gespannter Strebebögen
und Pfeiler verborgen, im Halbrund um Notre-Dame schwangen. Dort, in der
dritten Kapelle nach dem Portal, war eine kleine, jedoch reich verzierte Tür
eingelassen. Sie wurde Porte Rouge genannt, wie ich später erfahren
sollte, die »Rote Pforte«. Maria saß hier als Königin
über dem Eingang, der heilige Bischof Marcellus stand ihr zur Seite.
Doch die steinernen Heiligen mussten den Anblick eines Toten ertragen.
Vor den Stufen der Porte
Rouge lag die Gestalt eines Mönches in einer großen, dunklen
Lache Blut.
Ein zweiter Sergeant lungerte
im Schatten einer Hauswand, bis er uns erblickte. Er war größer
und dünner als sein Kamerad, doch kaum weniger verschlossen. Mit wütendem
Ruck zog er eine gefesselte Person hoch, die er mit einem groben Strick
gebunden hatte. Ich konnte nicht viel von diesem Gefangenen erkennen, denn
ein zerschlissener Kapuzenmantel unbestimmbarer Farbe verhüllte ihn.
Zudem wurden meine Blicke angezogen von dem schrecklichen Anblick des
Ermordeten.
»Wir haben jemanden,
der etwas gesehen hat, Meister Philippe«, brummte der zweite
Sergeant, der den Inquisitor offensichtlich schon besser kannte.
Philippe de Touloubre nickte
höflich, doch machte er eine abwehrende Geste. »Das hat Zeit«,
antwortete er. »Zunächst möchte ich mir den Toten
anschauen. Habt Ihr einen Bader gerufen — falls doch noch irgendeine
Hoffnung besteht?«
Der dickere Sergeant lächelte
unfreundlich. Wahrscheinlich erfüllte es ihn mit höhnischer
Freude, dass Meister Philippe nach einem Bader gefragt hatte, statt nach
einem der ehrenhaften Ärzte — welche zwar wesentlich mehr
Ansehen genossen und fast wie Adelige galten, deren Kuren und Rezepte
jedoch, wie jedermann wusste, oft gefährlicher waren als die der
Bader.
Bei dieser Frage hatte sich
ein Mann erhoben, der bis dahin von uns unbemerkt auf einem leeren
Weinfass im Halbdunkel gesessen hatte. »Ah, der Herr Garmel«,
rief der Inquisitor aus, als er der Gestalt ansichtig wurde. Er schien
erleichtert zu sein.
»Meister Philippe«,
murmelte der Mann und verbeugte sich tief. Er war dick, schwitzte stark,
roch allerdings nicht sauer, sondern nach Lavendel und anderen
Badeessenzen. Er mochte vielleicht vierzig Jahre alt sein und doch war er
schon ganz kahl. Seine Kleidung schien schlicht zu sein, aber sah man
genauer hin, so erkannte man, dass sein dunkles Wams aus Adasseide
gefertigt war und seine hohen, derb anmutenden Stiefel in Wahrheit aus
weichem Hirschleder genäht waren.
»Nicolas Garmel, immer
zu Diensten«, sagte er höflich und verbeugte sich vor mir nicht
weniger tief, als er es vor Meister Philippe getan hatte. »Bader im
Haus ›Wappen der Lilie‹ bei der Kirche
Saint-Jacques-la-Boucherie, Arzt auch, wenn es belieben, Chirurgicus und
Haarschneider.«
»Und der«,
Meister Philippe zögerte kurz, als suche er nach dem richtigen Wort,
»Mann des Vertrauens, wann immer der Inquisition ein rätselhafter
Todesfall zur Untersuchung vorgelegt wird.« Garmel nickte eifrig.
»Hexerei oder andere schwarze Künste waren hier jedenfalls
nicht im Spiel«, sagte er. »Das lasst mich erst sehen«,
entgegnete Meister Philippe. Der Bader bekreuzigte sich und beugte sich
mit uns über den Toten. »Niemand hat ihn angerührt«,
flüsterte er, als hätte er plötzlich Angst, dass die
Gestalt durch ein allzu lautes Wort doch wieder erweckt werden könnte.
»Die beiden Sergeants haben es nicht gewagt, ihn zu betasten.«
»Dann muss es jemand
anders gewesen sein«, murmelte Meister Philippe, »denn angerührt
wurde er, da besteht kein Zweifel.« Heinrich von Lübeck war
ungefähr fünfzig Jahre alt, als ihn sein Schicksal ereilte: ein
mittelgroßer, dünner, kahlköpfiger Mönch im
Dominikanerhabit, der an ihm nun viel zu groß wirkte. Er lag auf dem
Rücken, die Beine lang ausgestreckt, den linken Arm ebenfalls; der
rechte lag etwas angewinkelt, das Gesicht des Toten war in Richtung der
rechten Hand gedreht, als sei sie das Letzte gewesen, was er auf dieser
Welt erblickt hätte — wenn ihm dies überhaupt noch möglich
gewesen sein sollte. Neben seinem Gesicht lag nämlich ein Sehglas aus
Venedig im Straßenschlamm, das Gestell war jedoch
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