In Nomine Mortis
Der Vagant hat alles zugegeben!« Nun zitterte der Bader
wieder am ganzen Leib. »Ja, das stimmt«, antwortete er.
»Und Meister Philippe, das weiß ich sehr wohl, ist
erleichtert, in ihm den Mörder gefunden zu haben. So kann er es dem
Prévôt royal und dem Bischof melden, denn lange hat er ja
vergebens nach dem Sünder gesucht.
Meister Philippe hat mir
immer große Gnade erwiesen, sodass ich ihn nicht enttäuschen
mag. Und doch: Es quält mein Gewissen, sodass ich es wenigstens Euch,
einem Mann GOTTES, anvertrauen muss. Doch schwört, dass Ihr es
niemals dem Inquisitor verraten werdet!« Mir schauderte. Doch dann
versprach ich dem Bader, sein Geheimnis niemandem zu enthüllen.
Ich habe mein Wort gehalten
bis zu diesem Tag, da ich dies niederschreibe und alle Menschen, die jene
Geschichte betrifft, längst in SEIN Reich eingegangen sind.
»Erinnert Ihr Euch der
Wunden, die Heinrich von Lübeck und die Schönfrau Jacquette
gezeichnet hatten?«, fragte mich der Bader. Mit Schrecken dachte ich
daran zurück und nickte. »Es waren klaffende Wunden auf der
Brust. Messerstiche, so sagtet Ihr.«
Nicolas Garmel nickte.
»Ja, Bruder Ranulf, Messerstiche. Doch beide Wunden waren auf der
rechten Seite der Brust.« Und plötzlich verstand ich.
Mir war, als würde sich
der Boden unter mir auftun und mich in den feurigen Schlund der Hölle
zerren. Mir war, als könnte ich nicht mehr atmen. Mir war, als würde
sich Pierre de Grande-Rue von der Streckbank erheben und mit zermartertem
Finger anklagend auf mich weisen.
»Ja«, flüsterte
der Bader heiser, als er meines Entsetzens gewahr wurde, »das ist
es, was mein Gewissen quält: In beiden Fällen — und auch
bei Nicolas d'Orgemont, dessen Leiche Ihr nicht sähet, die ich jedoch
ebenfalls untersuchte — klaffte die Wunde auf der rechten
Brustseite.
Wenn man nun annimmt, dass
der Mörder jener Unglücklichen vor ihnen gestanden hatte, dann
deutet dies darauf hin, dass der Messerstoß mit der linken Hand geführt
worden ist. Der Unhold, den die Inquisition sucht, muss ein Linkshänder
sein.«
Ich sah jene Szene im
Schlachthof wieder vor meinem geistigen Auge, da Pierre de Grande-Rue das
Messer nach mir warf und ich glaubte, dass ich im nächsten Moment
sterben würde. »Der Vagant jedoch war Rechtshänder«,
murmelte ich.
*
Lange saßen wir danach
schweigend vor der Streckbank und blickten auf den Leichnam von Pierre de
Grande-Rue. Je länger ich grübelte, desto größer
wurde meine Überzeugung, dass dessen erstes Geständnis der
Wahrheit entsprach - nicht das, was er uns nach der Folter gesagt hatte.
Schließlich musste ich
mir selbst gegenüber zugeben, dass der Vagant uns nicht belogen
hatte: Jener Mann, dessen Qualen ich als Zeuge hatte mitansehen müssen,
mochte ein Sünder gewesen sein. Wohl auch hatte er versucht, die
Leiche des Heinrich von Lübeck auszurauben. Außerdem hatte er
den gestohlenen Kodex in der Hütte beim Temple versteckt. Doch getötet
hatte er den Mönch nicht. Und auch nicht Jacquette oder den Domherrn.
Heiße Scham stieg in
mir auf, da ich mich meiner Rachsucht erinnerte, als der Vagant leiden
musste. Er wurde, wie Jesus am Kreuz, gequält, ohne schuldig zu sein.
Und ich, ich war kaum besser als jener Schreiber, der wohl einst dem
Hohepriester Kaiphas das Protokoll geführt hatte, da er unseren
Heiland bezichtigte. Zur Scham kam die Angst: Denn wenn Pierre de
Grande-Rue nicht der Mörder war — wer war es dann? Wie sollte
ich ihn jetzt noch finden können? Jetzt, da Meister Philippe den Fall
für gelöst erklärt hatte? Jetzt, da selbst der Bischof von
Paris den Vaganten in einer Messe in Notre-Dame vor allem Volk zum
Schuldigen erklären würde? Niemand würde mehr nach dem
wahren Täter fahnden. Der Bader mochte meine Gedanken erraten haben.
Denn plötzlich fragte er mich: »Werdet Ihr weitersuchen, Bruder
Ranulf?« Ich blickte ihn an, dann nickte ich langsam. »Ja,
Herr Garmel, ja, das werde ich.«
»GOTT segne Euch,
Bruder Ranulf«, murmelte er. »Euch auch, Herr Garmel«,
antwortete ich. Dann beteten wir gemeinsam an der Streckbank, auf der
Pierre de Grande-Rue sein Leben ausgehaucht hatte.
Als wir danach zurück
ans Tageslicht stiegen, nahm ich den Bader im Klostergarten beiseite.
»Kein Wort darüber zu irgendjemanden!«, flüsterte
ich ihm zu.
Da lächelte
Weitere Kostenlose Bücher