In Nomine Mortis
Der HERR sieht's nicht, und der GOTT Jakobs beachtet's
nicht.«
Erst in den letzten Zeilen
fasste ich wieder Mut. Ja, ER verzeihe mir, in meiner Vermessenheit meinte
ich, dass sie allein für mich geschrieben worden waren. Mit neuer
Kraft las ich vor, so laut, dass sich mancher Mitbruder verstohlen zu mir
umblickte. »Wenn der HERR mir nicht hülfe, läge ich bald
am Orte des Schweigens. Wenn ich sprach: Mein Fuß ist gestrauchelt,
so hielt mich, HERR, DEINE Gnade. Ich hatte viel Kummer in meinem Herzen,
aber DEINE Tröstungen erquickten meine Seele. DU hast ja nicht
Gemeinschaft mit dem Richterstuhl der Bösen, die das Gesetz
missbrauchen und Unheil schaffen. Sie rotten sich zusammen wider den
Gerechten und verurteilen unschuldig Blut. Aber der HERR ist mein Schutz,
mein GOTT ist der Hort meiner Zuversicht. Und ER wird ihnen ihr Unrecht
vergelten und sie um ihrer Bosheit willen vertilgen; der HERR, unser GOTT,
wird sie vertilgen.«
»GOTT wird die Bösen
sicher vertilgen, so wie es geschrieben steht«, murmelte ein verhüllter
Bruder, der neben mir schritt, als wir kurz darauf zusammen die Kirche
verließen. »Aber SEINE Diener müssen ausgeschlafen sein,
um IHM dabei zu helfen. Der kalte Boden vor dem Altar ist ein Platz, um zu
IHM zu beten, aber nicht, um im Kampf gegen das Böse die Kräfte
zu sammeln.« Der Mönch deutete ein Nicken an, dann ging er
durch den Kreuzgang lautlos davon. Ich blickte Philippe de Touloubre nach
und fragte mich, ob es auf dieser Welt auch nur ein Geheimnis geben
mochte, das dem Inquisitor verborgen bleiben würde.
*
Am Morgen dieses Tages nahm
mich Philippe de Touloubre beiseite. Es war die Stunde nach dem Mahl, es
war noch dunkel draußen und still und friedlich. Wir schritten mit
verhüllten Häuptern den Kreuzgang entlang. Der Inquisitor
murmelte im Gehen — so leise, dass ich ihn kaum vernehmen konnte.
»Klostermauern haben
Ohren«, erklärte er mir und deutete ein Lächeln an, als er
bemerkte, dass ich meinen Kopf zur Seite neigen musste, um ihn verstehen
zu können. »Ich möchte nicht, dass im Dormitorium über
unsere Nachforschungen noch heftiger geflüstert wird, als es die
geschätzten Mitbrüder sowieso schon tun.«
Dann erklärte mir der
Inquisitor, er habe nach den Vigilien den Portarius noch einmal »brüderlich
befragt« und tatsächlich dazu gebracht, sein Schweigegelübde
aufzugeben. Ich konnte mir inzwischen lebhaft vorstellen, wie dies wohl
ausgesehen haben mochte: Philippe de Touloubre, scheinbar ausgeruht und
frisch wie nach langem Schlaf, hörte in finsterster Nacht einen verängstigten
und übermüdeten Mitbruder aus.
»Der Portarius gab
schließlich — gebührend zerknirscht, selbstverständlich
— zu, dass ihm Heinrich von Lübeck einen Schlauch Burgunderwein
gegeben habe. Dafür sollte der Portarius ihn, wann immer es unserem
nun leider verstorbenen Mitbruder beliebte, ohne große Fragen aus
dem Kloster lassen. Unser Torwächter, neugierig wie jeder gute Mönch,
behauptet, dass er weiß, wohin Heinrich von Lübeck gegangen
ist: zu einem deutschen Händler, der in Paris weilt. Angeblich sollen
sie sich aus ihrer Heimat kennen.«
»Seinen Namen wusste
der Portarius aber nicht?«, fragte ich. Philippe de Touloubre schüttelte
den Kopf, was ich unter der Kapuze kaum erkennen konnte. »Nein«,
antwortete er. »Es liegt an uns, den Namen herauszufinden —
und dem Kaufmann dann einen Besuch abzustatten. Wir wollen uns nun eilen.«
»Wohin gehen wir?«,
fragte ich ratlos.
»Zum Prévôt
royal«, antwortete der Inquisitor. »Ihm unterstehen alle
Wachen der Stadt. Vielleicht wird er es wissen. Ganz sicher wird er
unseren Besuch erwarten, denn er weiß, dass wir den Tod des Mönches
untersuchen. Eigentlich wäre es seine Aufgabe, den Mörder zu
finden, denn die Tat fand ja auf städtischem Boden statt.«
»Hätten wir ihn
dann nicht sofort aufsuchen sollen?«, erdreistete ich mich zu
fragen.
Philippe de Touloubre lächelte.
»Wir wollen ihm zeigen, wie wichtig wir ihn nehmen«, erwiderte
er.
*
Als wir das Kloster verließen,
sah ich mich überrascht um. Allerorten, so schien mir, waren die Häuser
geschmückt: Eichen-, Buchen- und Birkenzweige waren mehr oder weniger
kunstvoll um viele Hauseingänge gewunden.
Philippe de Touloubre
bemerkte meinen Blick und lächelte nachsichtig. »Es ist
Maientag«, sagte er. »Ein Tag, der
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