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In Nomine Mortis

In Nomine Mortis

Titel: In Nomine Mortis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cay Rademacher
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kein Bruder unter Brüdern mehr. Ich
     schlief nicht im Dormitorium mit den anderen, ja, hatte kaum ein Wort mit
     einem der Mönche wechseln können. Und ich studierte nicht die
     heiligen Schriften — weswegen ich doch eigentlich nach Paris
     entsandt worden war. Das alles musste nun warten. Mir wurde klar, dass ich
     erst ein Student der Theologie werden würde, wenn wir den Mörder
     Heinrich von Lübecks seiner gerechten Strafe zugeführt hätten.
    So dachte ich wieder an den
     Toten und der Schlaf wollte nicht kommen, obwohl ich erschöpft war.
     In meinem Geiste glitzerte wieder das Geld golden und silbern: Münzen
     aus vielen Ländern der Christenheit, alt und doch kaum je berührt.
     Wo mochten sie herstammen? Wie war Heinrich von Lübeck an sie
     gelangt? Hatte er sie schon aus seiner Heimat mitgebracht? Oder hatte er
     sie in Paris gefunden? Waren sie ihm hier gegeben worden? Oder, mich
     schauderte, hatte er sie gar hier oder irgendwo sonst gestohlen? War er
     vielleicht deshalb niedergestreckt worden? Aus Rache?   
    Dann schweiften meine
     Gedanken ab zu den letzten beiden Worten des Sterbenden: terra perioeci. War dies ein Land? Doch welches?
     Hatte es etwas mit dem Geld zu tun? Und wenn es kein Land war - was sonst
     mochte sich dahinter verbergen?
    Unruhig warf ich mich auf
     meiner Pritsche hin und her - jetzt doch froh darum, dass ich nicht im
     Dormitorium neben den Mitbrüdern liegen musste. So sehr sich mein
     Geist auch anstrengte, so liefen meine Gedanken doch stets im Kreise und
     kamen dort wieder an, wo sie ihren Ausgang genommen hatten - bis meine
     Gedanken schließlich eine andere Wendung nahmen. Eine, vor der ich
     mich fürchtete, ja, die ich abzuwehren mich zwingen wollte.
     Vergebens. Ich dachte an Jacquette.                  
    Müssen denn Frauen immer
     zur Sünde führen?, sprach eine Stimme in mir. Hat nicht Maria
     den HERRN geboren? Sah nicht Maria Magdalena als Erste unter den
     Sterblichen das leere Grab vor den Toren Jerusalems? Und haben nicht unzählige
     gelehrte Doctores, haben nicht Kirchenväter und Heilige gar unsere
     Kirche als mater
     ecclesia gerühmt?
     Sollte, ja musste dann nicht ein Mann, selbst ein Mönch, milde sein,
     wenn er an Frauen dachte?
    Doch meine Selbsttäuschung
     hielt nicht lange. Ich dachte an Jacquette, doch meine Gedanken an das Täubchen
     waren nicht die eines Heiligen. Ihr Gesicht sah ich vor meinem inneren
     Auge, ihre Haare, ihre Augen, ihren Mund, ihre Brust — ich fuhr von
     meiner Pritsche auf und heiße Scham glühte in mir.
    So verbrachte ich schließlich
     die erste Nacht in Paris - dem Ort meiner Sehnsucht — nicht auf der
     harten Pritsche meines Klosters, sondern ausgestreckt auf dem kalten Boden
     vor dem Altar der Kirche. Hierhin hatte ich mich geschlichen, hatte mich
     niedergeworfen und gedemütigt vor IHM und IHN angefleht, mir Stärke
     zu geben. Doch GOTT der HERR beschloss in jener Nacht in SEINER unergründlichen
     Weisheit, meine Gebete nicht zu erhören, sondern mich zu verdammen.

 
    4
    DIE GEHEIMNISVOLLE KOGGE
    Ich erhob mich, als ich den
     ersten Bruder zur Kirche schleichen hörte. Es war ein älterer
     Mann, der Nachtwache hatte und nun die Kerzen anzündete vor den
     Laudes. Der Tag von Sankt Markulf brach an, der Maientag, der Tag der
     Freude und des Lichts. Doch meine Gelenke schmerzten, meine Knochen waren
     kalt, meine Seele verfroren - ich fühlte mich kaum lebendiger als der
     Tote von Notre-Dame. Mühsam schleppte ich mich in das Dunkel zwischen
     zwei Pfeilern, damit mich der Bruder, der zu meinem Glück schläfrig
     war und noch vor Müdigkeit wankte, nicht erblickte. Als die anderen Mönche
     in einer langen Zweierreihe eintraten, schloss ich mich dem letzten Bruder
     unauffällig an.
    »Gloria« schollen
     unsere Stimmen zum Himmel, doch meine Seele mochte nicht folgen; zu sündig
     fühlte ich mich, beschmutzt und unwürdig, in diesem heiligen
     Hause zu sein.
    »HERR, DU GOTT der
     Vergeltung, DU GOTT der Vergeltung, erscheine!«, so lasen wir den
     94. Psalm: »Erhebe DICH, DU Richter der Welt; vergilt den Hofifärtigen,
     was sie verdienen!« Ich schämte mich, denn ich fühlte, wie
     ER in jenem Augenblick bis ins Innerste meiner Seele blickte. Doch
     verzweifelt rezitierte ich weiter, auch wenn mir heiße Tränen
     über die Wangen rannen. »HERR, sie zerschlagen DEIN Volk und
     plagen DEIN Erbe. Witwen und Fremdlinge bringen sie um und töten die
     Waisen und sagen:

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