In Nomine Mortis
mir bisher gar nicht aufgefallen war. Er war klein und
hager, ziemlich alt, fast zahnlos und von der Gicht gekrümmt. Er
hatte sich aufgerichtet und nun rief er mit hoher Stimme, während ihm
Speichel aus den Mundwinkeln floss: »Die Menschen werden sterben wie
die Ratten! Ohne Trost des HERRN! Denn der HERR zürnt unserem
Menschengeschlecht und wird es vertilgen ob unserer Sünden. Furunkel
werden die sündige Haut der Menschen überziehen, sie werden
aufplatzen und faulige Miasmen werden ihnen entweichen! Und Weiber wie Männer
werden Blut spucken und sterben am dritten Tag! Ich kann dies bezeugen,
denn ich habe es schon gesehen zu Jerusalem!«
Für ein paar Augenblicke
waren alle Menschen im riesigen Hause GOTTES vollkommen erstarrt, als
diese Stimme mit ihren schrecklichen Prophezeiungen zwischen den Säulen
hallte und zum Himmel hin verklang. Doch dann lachten zwei Buben lauthals
und riefen ihm Hohnworte zu. Und als wäre dies ein Zeichen, so wich
unser aller Beklemmung.
Die Matrone vertiefte sich
wieder ins Gebet, ich wandelte - äußerlich demutsvoll, wie es
sich für einen Mönch geziemt — langsam durch das
Kirchenschiff. Kurz darauf eilten einige Knechte der Domherren herbei,
griffen dem immer lauter und schrecklicher schreienden Alten links und
rechts unter den Arm und zerrten ihn zum Portal, wo sie ihn mit Tritten
und Hieben hinauswarfen.
Ich dankte GOTT, dass er mir
jenen Wahnsinnigen geschickt hatte, denn seine erschreckenden Worte
lenkten mich von meinen eigenen Gedanken ab.
Oh, hätte ich mich doch
an das Wort erinnert, dass aus dem Munde der Verwirrten oft die Wahrheit
am reinsten erklingt! So aber dachte ich nur an mich und meine Sünden
- und hatte, kaum dass er fortgeschafft worden war, die düsteren
Prophezeiungen des namenlosen Alten schon wieder halb vergessen.
In dem kleinen Tumult hatte
ich Meister Philippe kurz aus den Augen verloren. Daher war ich überrascht,
ja fast erschrocken, als der Inquisitor plötzlich vor mir stand.
»Wir wollen gehen«, sagte er bestimmt.
Wir verließen
Notre-Dame durch das Südportal. Zu unserer Linken erhoben sich die
Streben des Chores zu einem gewaltigen, sich wölbenden steinernen
Wald. Zwischen den Kapellen, Pilastern und Pfeilern stand allerlei Volk:
Marketender, die mit lauten Stimmen Esskastanien und Nüsse anpriesen;
Krüppel und Bettler, die um Almosen flehten; alte Weiber, die Kirchgängern
kleine Kerzen anboten - und einige Frauen, die scheinbar müßig
im Schatten der großen Streben standen und manchen Männern, die
an ihnen vorüberliefen, Worte zuriefen, die ich nicht verstehen
konnte. Ich sah einen Mann, der daraufhin stehen blieb und kurz mit einem
der Mädchen flüsterte, bevor sie zusammen tiefer hineingingen
ins Dickicht der Streben, wo die Schatten selbst zur Mittagsstunde so
dicht sind, dass das Auge sie kaum zu durchdringen vermag.
»Wieder eine Todsünde
mehr«, bemerkte Meister Philippe, der meinem Blick gefolgt war, und
schlug das Kreuz. »Jetzt, da ich mit den Domherren geredet habe,
wundere ich mich allerdings nicht mehr, dass sie diesem wollüstigen
Treiben im Schatten von Notre-Dame keinen Einhalt gebieten.«
»Ihr habt den Mann
gefunden, der Jacquette …«, fragte ich, doch ließ ich
den Satz unvollendet.
Der Inquisitor schüttelte
den Kopf. »Selbstverständlich leugnen sie alle. Selbstverständlich
sind sie empört, dass ich, nur aufgrund der Aussage einer verderbten
Sünderin, überhaupt in Erwägung ziehen kann, dass ein
Domherr zu Notre-Dame zu so einer Tat fähig wäre. Und
selbstverständlich boten sie mir trotzdem ihre brüderliche Hilfe
bei meinen Nachforschungen an.«
Meister Philippe schnaubte
verächtlich. »Fürwahr, ich glaube, ich könnte jeden
dieser feinen Diener GOTTES der Wollust wegen anklagen und ich würde
immer den Richtigen treffen. Doch in Paris wird schon so viel geredet, die
guten Bürger der Stadt sind in Angst. Du hast ja selbst gerade gehört,
wer alles das Wort zu erheben wagt in diesen Tagen. Da kann ich schlecht
alle zwölf Domherren von Notre-Dame offiziell vor ein
Inquisitionsgericht laden. Was gäbe das für ein Gerede!«
Meister Philippe lachte und
schien sich offensichtlich doch genau jene Szene vorzustellen. Dann schüttelte
er den Kopf. »Ein paar Zeichen — ein unbedachtes Wort von ihm,
die kleine, gehässige Bemerkung eines anderen Domherrn - lassen
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