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In Nomine Mortis

In Nomine Mortis

Titel: In Nomine Mortis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cay Rademacher
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er
     dann gestohlen? Hatte er überhaupt etwas gestohlen? Wie passte dies
     alles zu Jacquettes Geschichte? Und zu einem der Domherren von Notre-Dame?
     Und zu jüdischen Geldwechslern? Und zu dem Reeder aus Lübeck und
     seiner Gemahlin und dem verfluchten Schiff?
    Mir schwindelte. Was mich in
     jenen düsteren Stunden vielleicht am meisten beunruhigte, waren die
     Unrast und der Zorn, welche Meister Philippe befallen hatten. Ich wurde
     das Gefühl nicht los, dass der Inquisitor mehr sah als ich —
     und dass ihn das, was er erblickte und ich nicht einmal zu ahnen
     vermochte, in höchste Erregung versetzte. Doch was mochte dies sein?
    So warf ich mich denn Stunde
     um Stunde ruhelos auf meiner Pritsche hin und her. Doch genau in dem
     Moment, als eine Glocke irgendwo in Paris mit dünnem, kläglichen
     Läuten Mitternacht schlug, vernahm ich wieder leise Schritte auf dem
     Gang vor meiner Zelle. Ich warf mir den Umhang über, den ich am Abend
     in der Eile unserer Rückkehr nicht wieder beim Portarius abgegeben
     hatte. Vorsichtig trat ich hinaus auf den Gang. Ich konnte niemanden
     sehen, doch vermeinte ich, leise Schritte zu hören, die Richtung
     Kreuzgang verschwanden. Also eilte ich dorthin und bemühte mich, so
     lautlos zu sein wie ein Gespenst.
    Im Kreuzgang stand der Nebel,
     der sich noch immer nicht verzogen hatte, nass, kalt und grau zwischen den
     Säulen. Ein seltsames Licht schien aus dem Innern der Schwaden zu
     dringen, die einzige Helligkeit in einer rabenschwarzen Nacht. Ich schlug
     das Kreuz und sah mich um.
    Nichts. Hatte ich den
     geheimnisvollen Besucher schon wieder verloren?
    Da gewahrte ich einen dunklen
     Schatten am gegenüberliegenden Ende des Kreuzganges. Einen Moment
     lang zögerte ich: Sollte ich quer über den Innenhof eilen, um an
     die Gestalt heranzukommen? Ich entschied mich dagegen, denn ich wusste,
     dass meine Füße auf den kiesbestreuten Wegen ein knirschendes
     Geräusch machen würden, das mich verriete.
    Also den Kreuzgang entlang,
     immer dicht an der Mauer. Ich wandte mich nach rechts und betete, dass ich
     in meiner Eile nicht mit dem Unbekannten zusammenstoßen möge,
     falls dieser denselben Weg gewählt haben mochte.
    Doch ich hatte Glück.
     Ich sah einen Schatten, der vom Kreuzgang aus zur Pforte flog: eine
     Gestalt in einem dunklen Umhang, wie auch ich ihn trug. Einen Augenblick
     lang glaubte ich, unter dem schwarzen Stoff eine zierliche Gestalt
     auszumachen. Handelte es sich etwa um eine Frau? Doch dann glaubte ich,
     dass meine überreizten Sinne mich täuschten. Als der Unbekannte
     an der kleinen Kerze vorbeieilte, die neben der Kammer des Portarius
     loderte, da erschien er mir plötzlich riesenhaft groß und mächtig
     wie ein finsterer Ritter. Wer immer es sein mochte: Er war auf jeden Fall
     schnell. Er huschte an der Kammer des Portarius vorbei - der schlief den
     Schlaf des Unschuldigen, wie immer -, machte sich an der Pforte zu
     schaffen und drückte dann lautlos das Schloss auf. Einen Moment später
     war er draußen.
    »PATER in manus tuas
     commendo spiritum meum«, flüsterte ich, dann eilte ich
     ihm nach.
    Es war leicht, am schlafenden
     Portarius vorbeizukommen, und noch leichter war es, durch die Pforte zu
     schlüpfen. Der Unbekannte hatte nicht wieder abgeschlossen, er hatte
     die schwere, eichene Tür nicht einmal richtig zufallen lassen.
    Ich stand auf der Rue
     Saint-Jacques und blickte mich um. Zu beiden Seiten trieben Schwaden
     über die Straße, sie schienen aus dem nassen Pflaster, dem
     Unrat und den zerquetschten Körpern der toten Ratten aufzusteigen.
     Die Häuser waren dunkel wie Felsen, als lebten in ihrem Innern keine
     Menschen. Nirgendwo brannte eine Kerze, nicht einmal ein armseliges
     Talglicht schimmerte hinter einem Fenster — und doch war da dieses
     Leuchten, das aus dem Nebel selbst kam. Da sah ich den Schatten. Er war
     wohl zwanzig Schritte vor mir und eilte Richtung Seine.   
    Ich hielt mich so nah an den
     Häusern, dass meine rechte Schulter an den Mauern entlangstrich. Ich
     lief ein paar Schritte, dann zwang ich mich, langsamer zu gehen. Ich
     durfte nicht zu schnell werden, durfte dem Unbekannten nicht zu nahe
     kommen. Der Schatten vor mir bewegte sich nicht gleichmäßig:
     Mal eilte er ein kurzes Stück des Weges wie ein gehetztes Wild, dann
     wieder blieb er länger stehen, als es dauert, drei PATER noster
     aufzusagen. Er schien zu lauschen. Mir stockte der Atem: Hatte er meine
     Schritte

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