In Nomine Mortis
er
dann gestohlen? Hatte er überhaupt etwas gestohlen? Wie passte dies
alles zu Jacquettes Geschichte? Und zu einem der Domherren von Notre-Dame?
Und zu jüdischen Geldwechslern? Und zu dem Reeder aus Lübeck und
seiner Gemahlin und dem verfluchten Schiff?
Mir schwindelte. Was mich in
jenen düsteren Stunden vielleicht am meisten beunruhigte, waren die
Unrast und der Zorn, welche Meister Philippe befallen hatten. Ich wurde
das Gefühl nicht los, dass der Inquisitor mehr sah als ich —
und dass ihn das, was er erblickte und ich nicht einmal zu ahnen
vermochte, in höchste Erregung versetzte. Doch was mochte dies sein?
So warf ich mich denn Stunde
um Stunde ruhelos auf meiner Pritsche hin und her. Doch genau in dem
Moment, als eine Glocke irgendwo in Paris mit dünnem, kläglichen
Läuten Mitternacht schlug, vernahm ich wieder leise Schritte auf dem
Gang vor meiner Zelle. Ich warf mir den Umhang über, den ich am Abend
in der Eile unserer Rückkehr nicht wieder beim Portarius abgegeben
hatte. Vorsichtig trat ich hinaus auf den Gang. Ich konnte niemanden
sehen, doch vermeinte ich, leise Schritte zu hören, die Richtung
Kreuzgang verschwanden. Also eilte ich dorthin und bemühte mich, so
lautlos zu sein wie ein Gespenst.
Im Kreuzgang stand der Nebel,
der sich noch immer nicht verzogen hatte, nass, kalt und grau zwischen den
Säulen. Ein seltsames Licht schien aus dem Innern der Schwaden zu
dringen, die einzige Helligkeit in einer rabenschwarzen Nacht. Ich schlug
das Kreuz und sah mich um.
Nichts. Hatte ich den
geheimnisvollen Besucher schon wieder verloren?
Da gewahrte ich einen dunklen
Schatten am gegenüberliegenden Ende des Kreuzganges. Einen Moment
lang zögerte ich: Sollte ich quer über den Innenhof eilen, um an
die Gestalt heranzukommen? Ich entschied mich dagegen, denn ich wusste,
dass meine Füße auf den kiesbestreuten Wegen ein knirschendes
Geräusch machen würden, das mich verriete.
Also den Kreuzgang entlang,
immer dicht an der Mauer. Ich wandte mich nach rechts und betete, dass ich
in meiner Eile nicht mit dem Unbekannten zusammenstoßen möge,
falls dieser denselben Weg gewählt haben mochte.
Doch ich hatte Glück.
Ich sah einen Schatten, der vom Kreuzgang aus zur Pforte flog: eine
Gestalt in einem dunklen Umhang, wie auch ich ihn trug. Einen Augenblick
lang glaubte ich, unter dem schwarzen Stoff eine zierliche Gestalt
auszumachen. Handelte es sich etwa um eine Frau? Doch dann glaubte ich,
dass meine überreizten Sinne mich täuschten. Als der Unbekannte
an der kleinen Kerze vorbeieilte, die neben der Kammer des Portarius
loderte, da erschien er mir plötzlich riesenhaft groß und mächtig
wie ein finsterer Ritter. Wer immer es sein mochte: Er war auf jeden Fall
schnell. Er huschte an der Kammer des Portarius vorbei - der schlief den
Schlaf des Unschuldigen, wie immer -, machte sich an der Pforte zu
schaffen und drückte dann lautlos das Schloss auf. Einen Moment später
war er draußen.
»PATER in manus tuas
commendo spiritum meum«, flüsterte ich, dann eilte ich
ihm nach.
Es war leicht, am schlafenden
Portarius vorbeizukommen, und noch leichter war es, durch die Pforte zu
schlüpfen. Der Unbekannte hatte nicht wieder abgeschlossen, er hatte
die schwere, eichene Tür nicht einmal richtig zufallen lassen.
Ich stand auf der Rue
Saint-Jacques und blickte mich um. Zu beiden Seiten trieben Schwaden
über die Straße, sie schienen aus dem nassen Pflaster, dem
Unrat und den zerquetschten Körpern der toten Ratten aufzusteigen.
Die Häuser waren dunkel wie Felsen, als lebten in ihrem Innern keine
Menschen. Nirgendwo brannte eine Kerze, nicht einmal ein armseliges
Talglicht schimmerte hinter einem Fenster — und doch war da dieses
Leuchten, das aus dem Nebel selbst kam. Da sah ich den Schatten. Er war
wohl zwanzig Schritte vor mir und eilte Richtung Seine.
Ich hielt mich so nah an den
Häusern, dass meine rechte Schulter an den Mauern entlangstrich. Ich
lief ein paar Schritte, dann zwang ich mich, langsamer zu gehen. Ich
durfte nicht zu schnell werden, durfte dem Unbekannten nicht zu nahe
kommen. Der Schatten vor mir bewegte sich nicht gleichmäßig:
Mal eilte er ein kurzes Stück des Weges wie ein gehetztes Wild, dann
wieder blieb er länger stehen, als es dauert, drei PATER noster
aufzusagen. Er schien zu lauschen. Mir stockte der Atem: Hatte er meine
Schritte
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