In Nomine Mortis
flüsterte
ich mir schließlich zu. Oder war es eine andere Stimme, die mir dies
eingab? War es GOTT? Oder war es nicht vielmehr sein ewiger Widersacher,
der mich lockte und trieb? Nach einer unendlich langen Zeit jedenfalls
überwand ich die Lähmung meiner Glieder und drückte die
Pforte so vorsichtig auf, dass ihre Angeln nur ganz leise knarrten.
Im Innern von Notre-Dame war
es feucht und kühl und es roch nach kaltem Weihrauch. Die hohen
Pfeiler strebten in die tintenschwarze Düsternis. Die Galerien hoch
oben im Kirchenschiff, die Rosetten, die hohen Fenster, das Gewölbe,
die Kapellen zu beiden Seiten - alles lag verborgen in undurchdringlicher
Dunkelheit. Vor dem Altar jedoch brannten noch immer einige Kerzen, die Gläubige
in frommem Eifer gespendet hatten. Rot und gelb flackerte ihr Licht durch
den Chor, ließ dort die geschnitzten Stühle der Domherren dämonisch
aufleuchten, warf Lichtzungen ins Kirchenschiff und erhellte die
Grabplatten auf dem Boden.
Von meinem Unbekannten sah
und hörte ich jedoch nichts. Ich blieb an der Pforte stehen und zwang
mich, ruhig zu atmen. Langsam gewöhnten sich meine Augen an das
seltsame Licht in der Kirche. Ich konnte die Bänke für die
Betenden schemenhaft erkennen, zwei oder drei Beichtstühle, eine
Statue der Mutter GOTTES, den goldenen Rahmen eines Bildes, der
aufblitzte, als ein verirrter Luftzug einen Lichtstreif bis tief hinein in
eine Kapelle warf. Nichts. In Notre-Dame war es still wie in einer Gruft.
Nein, meine Erinnerung will mich hier täuschen: Notre-Dame glich in
jener Nacht einem riesigen steinernen Gefäß, einem Reliquiar,
randvoll angefüllt mit einer erhabenen, erschreckenden, mit einer
jenseitigen Stille. Ich spürte sie, sie schnürte mir die Brust
zusammen und verwirrte meine Sinne. Ich erschauderte. Was sollte ich nun
tun?
Zögernd ging ich tiefer
hinein ins gewaltige Kirchenschiff. Halb erwartete ich, meine Schritte
tausendfach verstärkt von den Kapellen und Pfeilern als Echo zurückgeworfen
zu hören. Doch es war, als schluckte die Dunkelheit jeden Ton. Ich
konnte keinen meiner Schritte vernehmen, wie in einem Alptraum, in dem man
sich bewegt und doch nicht von der Stelle kommt.
Das Licht der Kerzen am Altar
war mein Leitstern. Sorgfältig vermied ich es, in den Lichtschein zu
treten, um mich nicht zu verraten. Doch ihr Leuchten half mir, mich
zurechtzufinden. Vorsichtig ging ich einmal durch das ganze Kirchenschiff:
vom Hauptportal und den Zugängen zu den Türmen im Westen bis zu
den äußersten Kapellen hinter dem Chor im Osten. Nirgendwo
jedoch sah oder hörte ich etwas von dem Unbekannten, ich erblickte
keine offene Tür, bemerkte keinen Lichtschein außer dem am
Altar.
Und doch wurde ich das Gefühl
nicht los, dass mich jemand beobachtete. Ich glaubte, Blicke zwischen
meinen Schultern zu spüren, ja fast vermeinte ich, sie greifen zu können,
so wirklich erschienen sie mir. Doch stets, wenn ich mich rasch umdrehte,
war die Düsternis hinter mir so undurchdringlich wie die vor mir.
Meine Haare sträubten sich, Schauer liefen über meine Haut. Ich
fror. »DOMINE,
quo vadis?«, hauchte ich und irrte weiter, wohl eine Stunde lang.
Schließlich war ich
erschöpft, halb erfroren, mutlos und verängstigt. Ich hatte die
Spur des Unbekannten verloren. Langsam schlich ich zur Pforte zurück,
durch die ich in die Kathedrale gekommen war. Draußen blieb ich
einen Moment im Nebel stehen und sammelte mich.
Da erblickte ich Jacquette.
Zumindest gewahrte ich in einer der Gassen, welche zu Notre-Dame führten,
eine junge Frau, die sich gegen die Kälte in einen dunklen Umhang gehüllt
hatte, der fast ihren ganzen Körper verbarg. Das Haar jedoch trug sie
offen — und es schimmerte braun wie das jener Schönfrau, deren
Bild ich nicht mehr aus meinem Geist vertreiben konnte. Ihre Bewegungen
hatten noch etwas von der Ungelenkigkeit eines heranwachsenden Mädchens
- genauso wie es bei Jacquette gewesen war.
Ich musste mich zwingen,
nicht laut ihren Namen zu rufen, zu ihr zu eilen, um ihr Gesicht zu sehen
und, oh Sünde, ihre Hände zu ergreifen. So nah stand ich bei
ihr, dass ich meinte, sie fast berühren zu können. Doch der
Nebel täuschte. Tatsächlich trennten uns doch einige Schritte -
genug, dass sie mich, der ich mich an die Mauer von Notre-Dame drückte,
nicht einmal bemerkte. Genug auch, dass ich ihre Gesichtszüge
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