In Nomine Mortis
nicht
deutlich erkennen konnte. War sie es wahrhaftig? Oder war es ein Trugbild
Satans, mich zu locken und zu verhöhnen? Jacquette — wenn sie
es denn war — verschwand nach wenigen Augenblicken in der Gasse. Und
ich, ich wagte es nicht, ihr zu folgen. Nicht, weil ich Angst gehabt hätte
vor ihr. Nein, ich hatte Angst vor mir. Ich spürte, dass ich etwas
Unaussprechliches tun würde, ginge ich Jacquette nun nach. Ich wäre
ihr nicht einfach durch eine Gasse von Paris gefolgt, nein, so gut kannte
ich mein Herz nun schon. Ich wäre ihr gefolgt aus dem Kloster, aus
meiner Berufung, aus allem, was mir heilig und wichtig dünkte.
So blieb ich denn im Schatten
von Notre-Dame und atmete schwer und zitterte am ganzen Leibe, weil ich glücklich
war und todtraurig zugleich. Und weil ich wusste, dass mein Leben langsam
in Stücke zerfiel und ich nichts dagegen unternehmen konnte. Viel später
erst - als ich endlich wieder im Kloster war, unentdeckt, wie ich hoffte
—, ging mir auf, dass ich in Notre-Dame, als ich den Unbekannten
verfolgte, meine Hand nicht ins Weihwasser getaucht und das Kreuz
geschlagen hatte. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich ein Haus
GOTTES betreten und dabei diese Bezeugung von Glauben, Ehre und Demut
vergessen hatte. Noch ein böses Vorzeichen in dieser an bösen
Vorzeichen überreichen Zeit.
*
Ich schwankte vor Müdigkeit
in den Vigilien, doch fand ich keine Ruhe in Gesang und Gebet. Auch in den
wenigen Nachtstunden, die mir danach noch blieben, konnte ich nicht in das
gnädige Reich des Schlafes sinken.
Jacquette lebte und sie war
frei! Das zumindest redete ich mir immer wieder ein. Doch war sie es
wirklich? Mein Herz wollte es glauben. Mein Geist jedoch, geschärft
vom Studium und mehr noch vom Vorbild des Inquisitors, wollte zweifeln.
Hatte ich sie wahrhaftig erkannt? Hatte ich ihr Gesicht gesehen, ihre
Stimme gehört? Nein und abermals nein. Doch falls es tatsächlich
Jacquette gewesen war in jener düsteren Gasse: War es bloßer
Zufall, dass ich sie im Schatten von Notre-Dame wiederfand? Hatte sie
etwas mit dem Unbekannten zu schaffen, den ich zuvor verfolgt hatte? Und
wer verbarg sich hinter dieser Gestalt? Und warum Notre-Dame? Wer oder was
zog den Unbekannten dorthin? Und Jacquette? Und, ich schauderte, auch
Heinrich von Lübeck, der dort sein schreckliches Ende gefunden hatte?
Der Unbekannte und mein ermordeter Mitbruder hatten sich zudem im Kloster
in der Rue Saint-Jacques aufgehalten. Hatten diese Vorgänge also
etwas mit uns, den Dominikanern, zu tun?
So viele Fragen — und
nur eine Sicherheit: Ich würde, auch wenn mich mein schlechtes
Gewissen bedrängte, Meister Philippe weder von meinem nächtlichen
Abenteuer erzählen noch davon, dass ich Jacquette gesehen hatte. Ich
würde diese Ereignisse vorerst für mich behalten, bis ich klarer
sah.
*
Als ich zum Morgenmahl ging,
quälte mich die Furcht, Meister Philippe könnte mir meine
durchwachte Nacht und meine Seelenqualen ansehen. Hätte er mir auch
nur eine Frage gestellt - ich hätte es nicht über mich gebracht,
ihn anzulügen, sondern auf der Stelle alles gestanden. Doch der
Inquisitor kam an jenem Morgen nicht dazu, mich auch nur zu mustern.
Kaum hatten wir uns
niedergelassen, bat ihn ein schüchterner Novize hinaus zum Portarius.
Meister Philippe bedeutete mir mit einem Nicken, ihm zu folgen. So kamen
wir zur Klosterpforte, wo uns einer der beiden Sergeanten erwartete, die
uns den Leichnam Heinrichs von Lübeck gezeigt hatten.
Der Mann verbeugte sich würdevoll.
Doch selbst mich täuschte er damit nicht, denn ich sah, dass er sein
angstvolles Zucken, das ihm über die linke Gesichtshälfte lief,
nur unvollständig verbarg. »Wir haben in der ersten
Morgenstunde wieder einen Toten im Schatten von Notre-Dame gefunden, Herr«,
verkündete der Sergeant. Das blasse Gesicht des Inquisitors wurde
noch um eine Spur fahler. »Wer ist es?« Seine Stimme war
eisig.
»Es ist der Dekan der
Domherren, der ehrwürdige Nicolas d'Orgemont.«
»GOTT sei seiner Seele
gnädig«, murmelte ich unwillkürlich. Der Sergeant schlug
mechanisch das Kreuz und der Ausdruck nackter Angst stand ihm noch immer
im Gesicht. »Der hohe Herr ist zu den Schönfrauen gegangen«,
fuhr er mit sichtlichem Unbehagen fort, »dorthin, wo die Dirnen auf
Männer warten: zwischen den
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