In Nomine Mortis
entdeckt werden können.
Das wollte sie offensichtlich vermeiden - und so bekam ich einen Fetzen,
den man, zumindest auf den ersten Blick, bloß für ein zufällig
abgerissenes, gänzlich bedeutungsloses Stück Pergament halten
musste. Eine Notiz, wie sie wohl hundertmal gemacht wurde in der Stube
eines Geldwechslers. Was aber mochte sich hinter 8,23+24 verbergen? Wohl
eine Stunde lang grübelte ich. Hatte es etwas mit dem Geld zu tun,
das wir bei Heinrich von Lübeck gefunden hatten? Ich kam auf keinen
Zusammenhang. Was sonst sollte es sein?
Auf einmal schoss mir die
Schamröte ins Gesicht, weil ich nicht eher darauf gekommen war: Was
wusste Lea schon von mir? Dass ich Mönch war, sonst fast nichts. Das
eine, dessen sie sich sicher sein konnte, war, dass ich einen bestimmten
Text kannte. Raschen Schrittes ging ich hinüber zur Wand, wo ein
rohes Brett mir als Regal diente. Dort griff ich zur Bibel, dem einzigen
Buch in meinem Raum.
Mit zitternden Händen
schlug ich die Seiten des Alten Testaments auf: Doch ob in den Büchern
Mose oder in den Psalmen, ob bei den Propheten oder in den Geschichten der
Richter und Könige — nirgendwo fand ich unter dem Kapitel 8 und
den Versen 23 und 24 ein Zitat, das einen Sinn ergab für mich.
Ich stockte. Konnte es sein,
dass Lea, eine Jüdin, die Evangelien kannte? Wer würde dies
vermuten? Andererseits hätte ich auch nicht geglaubt, dass sie die
Werke der alten Geografen kannte. Vielleicht also war dies nur noch eine
weitere Verschleierung. Hastig blätterte ich nun im Neuen Testament.
Und schließlich schwebte mein Zeigefinger über dem Text des
Matthäus: »Et
ascendente eo in navicula secuti sunt eum discipuli eius et ecce motus
magnus factus est in muri ita ut navicula operiretur fluctibus ipse vero
dormiebat«, flüsterte ich: »Und er stieg in das Boot, und seine Jünger
folgten ihm. Und siehe, da erhob sich ein gewaltiger Sturm auf dem See,
sodass auch das Boot von Wellen zugedeckt wurde. Er aber schlief.«
8
DAS GESTÄNDNIS DER
SCHÖNFRAU
Die nächsten zwanzig
Tage litt ich Qualen, deren Bitternis auch zwanzig Jahre hätte füllen
können. Zwanzig Tage lang musste ich im Kloster verharren. Zwanzig
Tage lang brannte ich darauf, durch die Stadt zu eilen, und musste doch
vor Mauern und Pforten kapitulieren wie ein Gefangener im Verlies. Immer
stärker schwoll der Strom der Fliehenden an, die in Paris einen
sicheren Hafen sahen. Jetzt kamen auch die Bauern, die doch gewöhnlich
als letzte das Land verlassen: grobe, ungeschlachte Gestalten in grauen
und braunen Wollgewändern und Lumpen; Menschen, die, wenn sie denn
überhaupt sprachen, einen gutturalen Dialekt gebrauchten, den ich
kaum zu verstehen vermochte. Ihre Hände waren hart und kräftig
wie eiserne Zangen, ihre Rücken stark gebeugt, ihre Münder ohne
Zähne und ihre Haut stank erbärmlich nach Vieh und altem Stroh.
Wir hatten die strenge
Anweisung unseres Priors, den Bauern gegenüber Barmherzigkeit zu
üben, auf dass uns niemand nachsagen könne, wir seien weniger
mitleidig als die Brüder vom Orden des heiligen Franziskus. Deshalb
gebot er uns, in unserer Suche nach dem Unhold noch einmal innezuhalten.
Also fügte ich mich, auch wenn das Feuer der Ungeduld in mir loderte.
Ich säuberte Wunden, wusch Füße und legte lindernde Salben
auf Schultern und Gliedmaße, wo die Krätze sich tief in die
Haut gefressen hatte.
Müde war ich, denn
selbstverständlich rief uns auch weiterhin die Glocke bei Tage und
bei Nacht in die Kirche. Trotzdem schlief ich schlecht, denn wenn ich
endlich auf meiner Pritsche lag, dann musste ich an Leas Botschaft denken.
»Et ascendente eo in
navicula secuti sunt eum discipuli eius et ecce motus magnus factus est in
mari ita ut navicula operiretur fluctibus ipse vero dormiebat «, flüsterte ich unzählige
Male. Ein Boot, ein Sturm und jemand, der schlief. Was mochte das
bedeuten? Die einzige Verbindung der biblischen Worte zu unserem Fall, die
ich herstellen konnte, war die zur Kogge des Reeders Richard Helmstede.
Mein ermordeter Mitbruder stammte aus Lübeck, ebenso der Reeder. Ein
Sohn des Geldwechslers war Rabbiner in dieser nördlichen Hansestadt
und mithin ein Bruder Leas: Hatte er seiner Schwester womöglich ein
Geheimnis anvertraut? Eine fragile Kette verband diese Menschen und ihre
Schicksale, vielleicht handelte es sich aber auch um nichts
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