In Santiago sehen wir uns wieder
der Stille des glitzernden Wassers, von unserer Welt unbeirrt.
Und wie ich so schaue, sehe ich mich als kleines Mädchen im Sandkasten unter dem großen Birnbaum sitzen. Ich bin drei oder vier Jahre alt. Drüben auf der Terrasse steht meine Mutter, eine kleine Schwester auf dem Arm. Vor der Tür, die von der Terrasse in mein Kinderzimmer führt, steht eine tiefschwarze Gestalt. Es ist mein Vater. Bald ist er riesengroß, bald winzig klein, und seine Umrisse und Formen verwandeln sich ständig wie die einer Amöbe. Ich möchte in mein Zimmer gehen, aber die Gestalt verstellt mir den Weg. Eine namenlose Angst kriecht in mir hoch, ich verberge mich hinter dem Stamm des Birnbaums. Doch dann fasse ich Mut und gehe hinüber zur Terrasse, direkt auf die Gestalt zu und in das Schwarz hinein. Wie ich durch die Gestalt hindurchgehe, löst sie sich in nichts auf. Das Schwarz legt sich wie eine Haut um den gesamten Körper. Auch meine Augen sind vom Schwarz bedeckt, und alles, was ich sehe, ist düster und dunkel, die Wände meines Zimmers, meine Spielsachen, das ganze Haus. Ich reiße die Haut auf, löse sie von meinem Körper und werfe sie weit hinter mich. Farben erblühen im Licht der hereinfallenden Sonnenstrahlen.
Meine Mutter steht jetzt singend am Herd in der Küche, und die Treppe nach oben knarrt unter den schlurfenden Schritten meines Großvaters. Etwas lockt mich. Die Kellertür. Ich öffne sie und schaue in das Dunkel unter mir. Ich nehme allen Mut zusammen und taste mich hinunter in die Finsternis. Langsam, langsam gehe ich die Stufen hinab, halte mich am Treppengeländer fest. Jetzt wird es heller. Von rechts leuchtet ein warmes, mildes Licht. Ich steige tiefer und tiefer, und da auf einmal sehe ich auf dem Boden vor mir etwas glänzen. Gold, Silber, glitzernde Kristalle in allen Farben liegen vor mir ausgebreitet. Ich greife hinein in diese Fülle, in den Reichtum, den ich so lange gesucht habe, und Glückseligkeit durchströmt mich.
»Haben Sie Ihrem Vater verziehen?« fragt der Arzt, während er mir eine Tetanusspritze setzt. »Ja«, sage ich, »unter Zeugen«. In großem Bogen fliegt der Rucksack meines Vaters in den Müll.
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Ich liege auf der Couch, die kleine Leni schläft warm in meinen Armen. Das Bild meiner Mutter schiebt sich zwischen uns. »Siehst du Mutti«, sage ich zu dem Bild, »das ist Leni, deine Urenkelin und meine Enkelin. Ist sie nicht zauberhaft?«
»Omi soll Hände waschen«, und natürlich wäscht nicht der Papa, sondern Omi Tims Hände. »Omi Küsschen geben«, aber bis Tim bei Omi angelangt ist, ist er über einen Bagger gestolpert, mit dem er jetzt spielt. Auch dieser Abschied schmerzt. Warum tue ich mir ihn an? Aufbrechen, in die Ferne gehen, einsam sein, wo ich doch mit Tim das Bagger- oder das Eisenbahn-, das Versteck- oder das Windelstrampelspiel spielen könnte. »Ich schreibe dir Briefe, Tim, wenn ich mit dem riesengroßen Rucksack in die Ferne wandere.« Er wird sie sich zwanzig Mal vorlesen lassen, bis sie dann zerfleddert im Papierkorb landen.
Es ist dunkel, als ich vom Singen nach Hause fahre. Mit Musik die Kirchen des Camino füllen, mehrstimmig zur Orgel wie heute! Als ich an der Ampel warte, sehe ich plötzlich Spuren einer alten Liebe. Wie ein von der Sonne zerschlissenes Segel hängen sie am Bild meines einstigen Geliebten. Strahlen meiner Jugend glühen auf und verfangen sich im Netzwerk meiner Träume...
Es ist spät in der letzten Nacht, als unsere Tochter noch einmal anruft. »Alles Gute, Mama, alles Gute«, und ihre Stimme hat einen herzlichen Klang.
Der Weg beginnt
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Wer Unverhofftes nicht erhofft,
kann es nicht finden:
Unaufspürbar ist es und unzugänglich.
Heraklit
Beaulieu - Toulouse – Oloron
Freitag, 13. Juni
Der alte Küchenwecker klingelt. Es ist dunkel. Ich stehe angekleidet im Flur meines südfranzösischen Ferienhauses und schaue auf die Armbanduhr. Sie zeigt erst 1.10 Uhr. Mon dieu, wer hat Recht? Der Mond. Ich gehe wieder ins Bett. Um 7 Uhr gabelt mich Christophe im Dorf auf und bringt mich nach Lézignan. »Salut, Bella«, sagt er, »bon voyage. Du kannst beruhigt sein, die Elektropanne haben wir gefunden. Im September, wenn du zurück bist, mache ich die beschädigten Leitungen neu.« - »Und den Gasschlauch für den Herd auch.« - »Einverstanden.« - »Hoffentlich denkt Julien an die Bewässerungsanlage, die geht auch nicht mehr, und die Pfirsichbäume müssen behandelt werden, und wenn es nicht
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