In Santiago sehen wir uns wieder
seltsamen Wesen im Märchen, die Feen, Tiere und Zwerge, die dem Helden helfen, wenn er in Not ist.« - »Natürlich. Der gesamte Kosmos hilft demjenigen, der sich auf den Weg macht.« - »Nicht immer«, wende ich ein. »Wenn er sein Herz nicht öffnet und Mitgefühl für alle Kreaturen empfindet, ist er verloren.« - »Ja, das Herz«, sagt Salvatore leise, »es ist der Schlüssel.« Als wir uns trennen - er möchte schneller vorankommen -, sagt er: »Wir haben noch viel Zeit, um das Rätsel des Jakobswegs zu lösen, Bella«, und umarmt mich. »Ich wünsche mir, dass wir uns wiederfinden, bevor wir Santiago erreichen«, antworte ich.
Langsam gehe ich weiter. »Bella, ich habe gedacht«, sagt Amanda plötzlich. »Na Amanda?« - »Gibt es im Märchen auch Frauen, die aufbrechen, um ihren Prinzen zu finden?« — »Sicher, auch sie müssen Prüfungen und Gefahren bestehen. Aber das Märchen hat eine Vorliebe für männliche Helden. Warum fragst du?« - »Möchtest du nicht eine Prinzessin sein, die einen wunderschönen Prinzen findet?« - »Ach, Amanda, das sind Mädchenträume... das Leben ist manchmal sehr nüchtern! Ich hoffe immer noch, dass da, wo meine tiefsten Schmerzen liegen, mein Lernen am fruchtbringendsten ist... Wir werden sehen. Noch bin ich weder in der Goldenen Stadt angelangt, noch, so hoffe ich, am Ende meines Lebens. Aber das weiß man nie.«
Kurz vor dem Abstieg nach El Acebo beginnt mein rechtes Fußgelenk wieder zu schmerzen. Ich weiß, dass ich keinen Schritt mehr weitergehen darf. Überdies habe ich beim Cruz de Ferro meine Schnur vergessen, auf der ich meinen Schlafsack zum Trocknen aufgehängt hatte. Klar, ich will meine Schnur wiederhaben - wenig später stehe ich beim Eisenkreuz, ein französischer Fotograf hat mich in seinem Auto mitgenommen. Der Camino, Christentum und Buddhismus, Reinkarnation - noch lange hätten wir uns unterhalten können, aber es wird Abend, und ich fürchte, dass kein Auto mehr für die Rückfahrt vorbeikommen wird. »Geh noch einmal hinauf zum Kreuz«, sagt es in mir. Es ist vollkommen still und friedvoll hier oben, alle Pilger sind verschwunden. Lange schaue ich zurück in die Weite meiner Vergangenheit - schon hält der Wagen, der mich nach El Acebo bringen wird.
El Acebo - Peñalba de Santiago
Sonntag, 20. Juli
Missmutig wache ich auf. Im Traum musste ich über eine weite, schattenlose Ebene gehen. Endlich fand ich eine Quelle. Aber der Becher, aus dem ich trinken wollte, war zerbrochen. Mit leerem Magen steige ich hinter El Acebo in ein enges Tal hinab. Bei einer Mühle kurz vor Compludo mache ich Halt und nehme ein rasches Bad im eiskalten Bach. Setze mich auf einen Stein, mache Notizen. Von allen Seiten strömt Wasser. Jetzt wird die Mühle in Gang gesetzt, Hämmer schlagen, nein, es ist eine Schmiede, eine historische Schmiede. Die Strahlen der Sonne scheinen durch die smaragdgrünen Blätter der Akazien. Diesen Ort hätte Reine geliebt! Da sehe ich, wie sie durch den Garten geht, sich noch einmal umdreht und winkt - unser Abschied für immer, wir ahnen es beide. Ein halbes Jahr später stapfe ich durch die verschneiten Höhen des Schwarzwalds, da streift sie mich in einer Intensität und Nähe! - Ihr letzter Abschied, ich weiß es. Sie ist wirklich gegangen, an jenem Tag um diese Stunde. Und wie ich hier bei der Schmiede sitze, schreibe und dem Wasser lausche, da schwebt sie in den Bäumen und lächelt. Ja, ich werde sie mit mir nehmen in diesen Tagen, wo ich mich vom Jakobsweg entferne, um ein wenig auszuruhen.
Tatsächlich habe ich den traditionellen Pfad verlassen, um ins Gebirge nach Peñalba de Santiago zu wandern. Compludo: Schinken, Brot, ein miserabler Kaffee und schlechte Laune. Drei Kilometer Steigung in der Sonne. Ein Windstoß fegt mir den Hut in die Dornen. Abladen, vorsichtig, natürlich rutsche ich aus, aber nichts ist passiert. Ich bin wütend. Was soll ich hier? Wandern, mich abrackern? Das kann ich auch anderswo. Überhaupt, hier sieht es aus wie in Beaulieu. Wäre ich doch gleich dort geblieben! Aufhören, Abbrechen, Heimgehen! Außerdem, hinter jeder geöffneten Tür erheben sich drei neue - verschlossene natürlich, da werde ich nie fertig, nie werde ich in der Goldenen Stadt ankommen. »Bella«, wispert Amanda von hinten. »Ich habe gedacht... « - »Na, Amanda?« - »Nimm doch mal einen Sabbattag, einen Austag, ich sag’s schon lange. Denk an nichts, nicht an deinen Auftrag, sondern nur an dein Gehen. Du bist doch immer
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