In Santiago sehen wir uns wieder
braunen Schimmer.« - »Stell dir vor, Amanda, ich werde sie bald wieder sehen, und dann hat sie vielleicht braune Augen. Aber hör weiter.« Zum Tauffest luden die Königin und der König die schönste, liebste und mächtigste Fee des Reiches als Patin ein. Sie hieß Reine. Sie kam und schenkte dem Mädchen einen wunderschönen goldenen Becher. Alle waren glücklich, die Mutter, der Vater, die Fee und das Kind. Als aber die Gäste gegangen waren und die Eltern die vielen Geschenke aufräumten, da - oh Schreck! - war nur noch eine Hälfte des goldenen Bechers vorhanden. Die Eltern suchten und suchten nach dem fehlenden Stück, vergebens. Verzweifelt riefen sie die Fee. »Geht ihr so mit meinem Geschenk um?« fragte Reine ärgerlich. »Nun, es ist geschehen. Hört, was ich euch sage: Euer Kind wird gesund und fröhlich aufwachsen. Doch im Alter von vierzehn Jahren wird sich eure Tochter aufmachen müssen, um die verlorenen Bruchstücke ihres goldenen Bechers zu suchen. Erst dann wird sie ihre Freude wiederfinden und zu einer schönen, gesunden Frau heranwachsen. Sorgt gut für euer Kind und gebt ihm alles, was es braucht. « Die Fee war verschwunden. Die Eltern legten die Becherhälfte in ein Elfenbeinkästchen und taten, was die Fee gesagt hatte. Leni wuchs in Gesundheit auf, wurde ein freundliches und lebenslustiges Mädchen.
Amanda ist eingeschlafen, ich bin auch müde. Der Tag durch die Felder und Dörfer des belebten Bierzo war anstrengend, und morgen erwartet uns eine lange Etappe.
Cacabelos – Vega de Valcarce
Donnerstag, 24. Juli
Der Weg nach Villafranca del Bierzo ist mühsam. Landstraße, schnelle Autos, Staub, Unruhe, Lärm. Zwischendrin einige Pilger, die meisten sind schon weg. Die Santiago-Kirche in Villafranca. Schlichte Romanik, flackernde rote Lichter um die Statue des Heiligen Jakob. Helligkeit, Leichtigkeit. Das Ticken einer Wanduhr. Ob es denn nicht leiser ginge, frage ich die Aufsichtsperson im Dauergespräch mit einem Touristen. »Das hier ist keine Kirche für den Gottesdienst«, fährt sie mich an, »also kann man reden wie man will.« - »Pech gehabt«, sagt Amanda, »wie kannst du denn so dumm sein und hier irgendetwas ändern wollen?« - »Kommt nicht wieder vor. Aber weißt du, Pilgernerven liegen manchmal blank.«
Klar ist, dass ich vom kürzeren Hauptweg an der Nationalstraße in die Berge ausweichen werde. Steil geht es bergauf. Hitze, Sonne und unter mir die Trasse der Autobahn, die den Berg aufschneidet wie ein geschlachtetes Hühnchen. Um sie herum führen die Nationalstraße und die Landstraße einen Dauertanz über Brücken hinweg, durch Unterführungen hindurch. Ein Motorradfahrer fragt mich nach dem Weg und hüllt mich in Staub. Aber dann bilden Farn, Ginster, Eichen und Kiefern einen Schutzwall gegen die Geräusche des Wahnsinns. Ich finde Ruhe im Schatten zwischen Erika und Kamillenblüten. Wölkchen segeln über mich hinweg, die Grillen stimmen ihr Mittagskonzert an. Auf meiner Matte liegend, sinke ich hinein in eine tiefe Dankbarkeit für die Etappen meines Weges, für die Umwege, die keine waren, für die Menschen, die mir begegneten und um mich sind. Mein ganzes Leben liegt wie ein Buch aufgeschlagen vor mir, mit tausend Bildern, Stimmen, Klängen. Ich erkenne Fäden in einem Netzwerk, dem eine eigene Dynamik und Ordnung zugrunde liegt. Alles ist in Ordnung. Ich bin in Ordnung. Mit Hunger und Genuss beiße ich in mein Brot und den herrlichen Käse, gönne meinem Fuhrwerk Freiheit, Licht und Luft. »So gefällst du mir schon besser«, sagt Amanda, »lass dich nicht immer so schnell rausbringen.«
Auf dem Weg liegt ein Zettelchen für eine Sylvia:
Liebe Sylvia,
gute Übung war Peñalba, nicht wahr?
Hab Dank dafür, dass du mir geholfen hast,
mein Gehirn abzuschalten!
Liebe Grüße Kees
Da ich annehme, dass Sylvia schon längst voraus ist, nehme ich das Zettelchen an mich.
Vega de Valcarce – La Faba
Freitag, 25. Juli
Heute beginnt der Anstieg auf die Passhöhe von O Cebreiro, dem Tor in die Region Galicien, in der Santiago liegt. Es ist grau und regnerisch, als ich von Vega de Valcarce aufbreche. Ich trödle - grün, grün, knackig grün ist es, Kuhfladen auf dem Weg, Gladiolen in vielen Farben, Rosen und Hortensien, Nussbäume, Kastanien. Die Kirchen am Weg sind offen. Ungestört sitze ich in der Kirche von Ruitelán. Ich fühle mich meiner ureigenen innersten Identität so nahe wie nie zuvor. Ein Sonnenloch, mein Schatten geht vor mir her,
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