In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
Biertrinkern zurück und setzte sich zu Theo. Schüchtern lächelte sie ihn an. Theo lächelte beruhigend zurück. Na bitte, ich bin noch immer der Traum aller Schwiegermütter, dachte er und straffte die Schultern.
Kurz darauf hielt die Bahn am unterirdischen Gleis des Jungfernstiegs. Es waren viele Leute unterwegs, sodass Theo es vorzog, die Treppe statt der Rolltreppe zu nehmen. Er warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass er noch eine Viertelstunde Zeit hatte. Die Sonne brannte gnadenlos auf den Boden des Rathausmarktes. Das Kupferdach des Rathauses hob sich grün vom blassblauen Himmel ab. Das Bauwerk war Ende des 19. Jahrhunderts nach einem Brand neu errichtet worden. Mit seinen reichen Verzierungen entsprach es nicht unbedingt Theos Geschmack, bot aber zweifellos eben den imposanten Anblick, den die Bauherren bezweckt hatten. In Hamburg hatte nicht der Adel das Sagen gehabt, sondern die Bürgerschaft der Freien und Hansestadt. Und so war es auch kein Zufall, dass oberhalb der Abbildungen verschiedener deutscher Monarchen Sinnbilder der bürgerlichen Tugenden die Fassade des Mittelturms schmückten: Weisheit, Eintracht, Tapferkeit und Frömmigkeit. Theo kaufte sich in einem der gläsernen Pavillons eine Cola, die er rasch und durstig trank. Dann überquerte er den Platz und betrat das Rathaus.
Die Assistentin von Nathalie Stüven sah haargenau so aus, wie Theo sie sich vorgestellt hatte: ein perfekt sitzender grau gesträhnter Pagenkopf, tadelloses anthrazitfarbenes Kostüm und ein Blick, der jeden Besucher in seine Schranken wies.
»Herr Dr. Matthies? Frau Dr. Stüven erwartet Sie schon.« Sie öffnete ihm die Tür zu Nathalies Büro.
»Hallo, Theo.« Nathalie kam hinter dem Schreibtisch hervor, um ihn zu begrüßen.
Theo blickte sich um. »Wirklich hübsch.«
Der Blick über den Rathausmarkt war eindrucksvoll. Wer hier am Fenster auf das Fußvolk schaute, das unten seinen Geschäften nachging, konnte sich zweifellos erhaben fühlen.
»Komm, setz dich.« Nathalie führte ihn zu einer kleinen Sitzgruppe.
Statt der gründerzeitlichen Ausstattung der offiziellen Räume bevorzugte Nathalie offenbar modernes Mobiliar. Sie hatte sich kaum verändert. Nur der Pferdeschwanz von einst war einer schicken Föhnfrisur gewichen.
Sie lachte. »Das ist wirklich ziemlich lange her.«
»Siebzehn Jahre.«
»Großer Gott. Und wie ist es dir ergangen?«
»Nathalie, ich bin nicht hier, um Smalltalk zu halten.«
Sie runzelte die Stirn. Noch immer konnte sie es nicht leiden, wenn jemand anderes bestimmte, wo es langging, noch nicht einmal, wenn es sich um ein Gespräch handelte.
»Wie du vielleicht weißt, bin ich inzwischen Bestatter.« Er zweifelte nicht daran, dass sie sich vor seinem Besuch über ihn informiert hatte.
»Ja. Nach dem Tod deiner Frau, nicht wahr? Das hat mir furchtbar leidgetan.«
Theo überging die Beileidsbekundung. »Nun, und in dieser Eigenschaft habe ich in den letzten vierzehn Tagen gleich zwei Tote bei mir auf dem Tisch gehabt, an die du dich noch sehr gut erinnern können wirst.«
»Tatsächlich?« Sie spielte mit der Perlenkette an ihrem Hals.
»Reinhold und Sebastian.«
Sie erstarrte einen Moment. Dann lächelte sie ihn bekümmert an. »Aber das ist ja schrecklich. Einer nach dem anderen, und so kurz hintereinander …«
Du hast den Punkt erfasst, dachte Theo. »Und das ist nicht die einzige Merkwürdigkeit«, fuhr er fort. »Sie sind beide eines äußerst ungewöhnlichen Todes gestorben: Tollwut.«
»Wie fürchterlich. Aber was hat das mit mir zu tun?«
»Komm schon, Nathalie, du glaubst doch nicht, dass das ein Zufall ist.«
»Nun, die beiden waren ja immer dicke Freunde …«
»Du willst sagen, ihr drei wart früher dicke Freunde.«
Sie unterbrach ihn mit einer kurzen Handbewegung. »Aber Theo, das ist Ewigkeiten her. Ich hatte zu Sebastian und Reinhold seit Jahren keinen Kontakt mehr.«
Glaub ich sofort, dachte Theo. Die waren ja auch nicht besonders einflussreich. »Nun, wie es aussieht, haben sich Sebastian und Reinholds Wege ebenfalls nach der Schule getrennt. Für Reinhold ist es nicht so gut gelaufen. Er hat getrunken. Und Sebastian hat ein leidlich erfolgreiches Unternehmen aufgebaut. Das passt nicht zusammen. Die Schulzeit war also ihr einziger Berührungspunkt.«
Nathalie schwieg. Sie war zweifellos eine hochintelligente Frau, die die Zusammenhänge blitzschnell durchschaute.
»Du weißt, worauf ich hinauswill, nicht wahr?«
Sie zuckte leicht mit den
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