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In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)

In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)

Titel: In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Fux
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verlaufen.
    Als Theo am nächsten Morgen aus der Dusche kam, griff er mit noch nassen Händen nach seinem quäkenden Mobiltelefon.
    »Ich verbinde mit Frau Dr. Stüven«, sagte die Senatssekretärin.
    »Theo Matthies?« Er erkannte die Stimme sofort wieder.
    »Nathalie, warum hast du dich nicht eher gemeldet.«
    »Du, ich bin wirklich sehr beschäftigt. Was gibt’s denn?«
    Er hörte die Ungeduld in ihrer Stimme und wurde sauer. »Das sollten wir besser nicht am Telefon bereden.«
    Sie schwieg. Theo spürte, wie es in ihr arbeitete. Vermutlich überlegte sie, ob er irgendeine unangenehme Geschichte über sie ausgegraben hätte.
    »Na gut«, sagte sie endlich. »Du kannst um 18 Uhr vorbeikommen. Hier in meinem Büro im Rathaus. Viel Zeit habe ich aber nicht.«
    Zicke, dachte Theo. »Ich schaue, ob ich es einrichten kann«, sagte er lässig. Dann beendete er das Gespräch mit der schwachen Befriedigung, das letzte Wort gehabt zu haben.
    Nach einem komplizierten Gespräch mit zwei Schwestern, die sich nicht über die Beerdigung ihrer Mutter einigen konnten, nutzte Theo eine kurze Arbeitspause, um sich über Nathalie zu informieren.
    Seit dem Abitur hatte sie eine Bilderbuchkarriere hingelegt. »War zu erwarten«, murmelte Theo. Sie hatte Jura studiert, ihr Staatsexamen mit Bestnoten abgeschlossen und in Rekordzeit ihren Doktor gemacht. Anschließend hatte sie ein paar Jahre in einer renommierten Anwaltskanzlei gearbeitet, bis sie in die Hamburger Politik eingestiegen war. Sie war eine der jüngsten Senatorinnen, die die Hansestadt je gehabt hatte.
    Theo erinnerte sich noch gut daran, wie Nathalie erstmals in seiner Klasse aufgetaucht war: groß, schlank, mit klassischem blonden Pferdeschwanz – Typ Hanseatentochter. In einer Gegend wie Wilhelmsburg war das eine eher seltene Spezies. Während die anderen Mädchen noch auf der Suche nach ihrem Stil und ihrer Persönlichkeit waren und sich im Chaos pubertärer Dramen verstrickten, schien Nathalie um Jahre reifer, als sie war: ein Schwan im Ententeich. Als sie in der neunten Klasse zu ihnen stieß, waren alle hingerissen gewesen: Die Mädchen hatten ihre Freundschaft gesucht, die Jungen waren im respektvollen Abstand um sie herumscharwenzelt. Keiner hatte geahnt, dass die schöne Nathalie eine Schreckensherrschaft errichten würde.
    Auch Theo hatte anfangs für sie geschwärmt. Und da er ein hübscher Junge war, hatte er durchaus Gnade vor ihren Augen gefunden. Bis Nathalie herausgefunden hatte, welchem Beruf sein Vater nachging.
    »Bestatter?«, hatte die Arzttochter gesagt und ihr Näschen verzogen. »Das ist ja widerwärtig.«
    Theo war vor Scham ganz bleich geworden. Bislang war der Beruf seines Vaters seinen Mitschülern zwar etwas gruselig, aber zweifellos auch aufregend vorgekommen. Nathalie hatte diesen Blickwinkel mit einem einzigen Satz für immer verschoben. Fortan war Theos Familie ein Makel. Nathalie würdigte ihn kaum noch eines Blickes. Wenn sie in seiner Nähe war, rümpfte sie stets diskret die Nase, als sei ihr ein unangenehmer Geruch in selbige gestiegen. Stattdessen zog sie die Gesellschaft von Reinhold und Sebastian vor, die sie wie ihre Lakaien behandelte.
    Theo besann sich der Mischung aus ohnmächtiger Wut und Scham, die ihn jedes Mal packte, wenn er sie sah. Dabei hatte er noch Glück. Ihn ignorierte sie bloß. Andere machte sie richtig fertig. Und jetzt würde er sie also wiedersehen. Ein vertrautes Gefühl der Beklommenheit machte sich bei dieser Aussicht in ihm breit. Zornig schüttelte er es ab.
    Wie immer, wenn er in die Innenstadt wollte, verzichtete Theo auf sein Auto und stieg stattdessen in die S-Bahn. Dazu fuhr er die quietschgelbe Rolltreppe hinauf, über die er den Zugang zum Bahnhof Wilhelmsburg erreichte. Er bezahlte mit Geldkarte und eilte die Stufen zum Bahnsteig hinunter, in den gerade der passende Zug einfuhr. In letzter Sekunde sprang er hinein. Es war ein vergleichsweise neues Abteil, aber Horden von Jugendlichen hatten ihm bereits ihren Stempel aufgedrückt. In zahllosen Graffitis hatten sie sich selbst und der Welt klargemacht, dass sie existierten. Am Bahnhof Veddel stiegen zwei Jungen ein, die Bierflaschen in den Händen hielten. Einer rülpste vernehmlich. Die beiden gackerten. Offenbar war es nicht das erste Bier des Tages. Dabei konnten die zwei höchstens fünfzehn sein. Theo war noch jung genug, um sich an ähnliche Eskapaden zu erinnern, als er im gleichen Alter gewesen war. Eine alte Dame zog sich von den jungen

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