In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
sich genau das wünschten.
»Ist ihr was passiert?«
May schnaubte. »Es scheint eher so, als wär jemand anderem was passiert. Jedenfalls sitzt sie bei der Schulleiterin.«
»Großartig. Ich fahr gleich los.«
Für den Weg zur Ganztagsschule am Stübenhoferweg brauchte er nur wenige Minuten. Vor den flachen blauen Gebäuden erstreckten sich Weiden, auf denen Pferde grasten. Ein Teil der Wiesen war für den Kinderbauernhof abgeteilt, auf dem allerlei Getier von Schweinen, über Ziegen und Geflügel bis hin zum Esel besucht und gestreichelt werden konnte. Hinter der Schule hingegen ragte die Hochhaussiedlung Kirchdorf Süd auf, ein monströses Beispiel sozialen Wohnungsbaus der Siebzigerjahre.
Theo parkte seinen Wagen und betrat das Gebäude. Seit er selbst hier vor fast dreißig Jahren eingeschult worden war, hatte sich einiges verändert. Man hatte großzügig an- und umgebaut, sodass auf dem Gelände neben der Grundschule inzwischen auch eine Stadtteilschule untergebracht war, die die Schüler bis zum Abitur besuchen konnten.
Da noch Unterricht herrschte, waren die Gänge wie ausgestorben. Theo folgte der Ausschilderung bis zum Büro der Schulleiterin.
Lilly saß auf einem Stuhl und baumelte mit den Beinen. Sie sah aus, als könnte sie kein Wässerchen trüben.
»Theo Matthies«, stellte Theo sich vor. »Ich bin hier, um Lilly abzuholen.«
Die Schulleiterin, eine etwa fünfzigjährige Frau mit kurzen blonden Haaren, erhob sich und gab ihm die Hand.
»Sind Sie der Vater?«
Theo schüttelte den Kopf. »Eher ein Freund der Familie. Die Mutter ist gerade verhindert. Aber ich habe hier eine Vollmacht.« Er reichte der Schulleiterin ein Blatt Papier, das May schon vor einiger Zeit ausgestellt hatte – für alle Fälle.
»Lilly, wenn du kurz draußen warten würdest?« Die Schulleiterin blickte streng über den Rand ihrer Brille.
Lilly ließ sich in Zeitlupe vom Stuhl rutschen und schlenderte hinaus. Sie trug noch immer eine betont gleichmütige Miene zur Schau.
Theo seufzte. »Was hat sie denn nun ausgefressen?«
»Sie hat einen Jungen aus ihrer Klasse verprügelt, soweit ich es verstanden habe. Er hatte starkes Nasenbluten und eine Platzwunde an der Stirn.«
Theo starrte die Rektorin verblüfft an. Körperliche Gewalt lag Lilly normalerweise fern. Sie hatte eine derart scharfe Zunge, dass sie ihre Schlachten mühelos verbal ausfechten konnte.
»Haben Sie eine Ahnung, warum?«
Die Schulleiterin hob hilflos die Hände. »Die beiden verweigern jegliche Aussage.«
Als Theo aus dem Büro kam, stand Lilly mit geschlossenen Augen auf einem Bein. Den anderen Fuß stützte sie angewinkelt seitlich auf dem Knie ab. Die Arme hielt sie über dem Kopf, wobei sie ihre Hände flach aneinanderpresste.
»Lilly, was treibst du da?«
»Yoga.«
Er seufzte und nahm ihren Schulranzen, auf dem phantastische Schmetterlinge flatterten. »Abmarsch.«
Auf dem Weg nah Hause sah Lilly gleichmütig aus dem Fenster. Sie sagte kein Wort.
So einfach kommst du mir nicht davon, Fräulein, dachte Theo.
Er nahm sie mit zu sich und wies sie an, sich an den Küchentisch zu setzen. Er selbst lehnte mit überkreuzten Armen an der Anrichte. »Und nun mal raus mit der Sprache. Seit wann verprügelst du deine Mitschüler.«
»Aber Theo. Der Typ ist ein wirklich übles Subjekt.« Sie sah ihn treuherzig an.
Theo musste sich ein Lachen verbeißen. Er staunte immer wieder über Lillys ungewöhnliches Vokabular.
Lilly schniefte. »Der Typ, also René heißt der, der ärgert immer die anderen Kinder. Wirklich Theo, der ist wirklich total fies.«
»Aber normalerweise verprügelst du ihn doch wohl nicht.«
»Heute hat er wieder Abena fertiggemacht. Abena Frimpong. Er nennt sie immer ein dreckiges Niggermädchen. Nur weil sie aus Ghana kommt und noch nicht so gut Deutsch spricht.«
»Und dann?«
»Jedenfalls hat er heute ihren Schulranzen weggenommen und den Inhalt die Treppe runtergeworfen. Das war wirklich gemein. Und Abena hat geheult.«
»Und da hast du ihn verprügelt.«
»Nicht wirklich.«
»Wie denn?«
»Nur ein bisschen geschubst.« Sie sah ihn mit großen Augen an. »Aus Versehen ist er dann die Treppe runtergefallen. Aber nur ein paar Stufen.«
»Himmelherrgott Lilly!« Theo verdrehte die Augen. Insgeheim konnte er ihr nicht wirklich böse sein. Wenn jemand vor Jahren Nathalie oder Sebastian ein bisschen mit Nachdruck geschubst hätte, wäre das Leben vielleicht für ein paar seiner Mitschüler deutlich besser
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