In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
und stieg die Treppe in den ersten Stock hinauf. Auch hier war alles dunkel und still. Im Schlafzimmer des Ehepaares waren die Bettdecken abgezogen. Auf der Kommode lag ein leichter Staubfilm. Das angrenzende Zimmer hatte früher einem Kind gehört und war mit dem Zeitpunkt seines Auszuges erstarrt. Vergilbte Poster einer Popband hingen an der Wand. In den Regalen standen Schulbücher der Oberstufe: Integralrechnung, Evolutionsbiologie, organische Chemie. Das dritte Zimmer diente offenbar als Abstellraum für Bügelbrett, Kartons unbekannten Inhalts und ausrangiertes Mobiliar.
Als er die Treppe wieder hinunterstieg, stand Hadice immer noch mitten im Zimmer und betrachtete die Decke, als versuchte sie, in dem Gespinst eine Antwort auf die vielen Fragen zu finden, die sie hatte, und deren drängendste war: Wo ist Theo?
»Oben sieht es auch nicht so aus, als hätte sie sich länger hier aufgehalten. Vielleicht hat die Nachbarin sich geirrt.«
»Was ist mit dem Keller?«, fragte Hadice und erwachte aus ihrer Erstarrung. »Wenn sie jemand gefangen hält, dann doch sicher im Keller.«
Sie fischte zwei Beweismitteltüten aus ihrer Handtasche, zog die Latexhandschuhe über und machte sich daran, die Gläser einzupacken – das mit dem Lippenstift und das ohne, von dem sie sicher war, dass Theo erst vor ein paar Stunden daraus getrunken hatte.
»Warte hier, ich gehe nachschauen.« Henry öffnete die Tür zum Keller, die sich in der Küche befand. Er stutzte. Ganz schwach schien dort unten ein bläulicher Lichtschein zu schimmern. Er knipste das Licht an. Anders als die Treppe in den ersten Stock war diese aus rohem, dunklem Holz gezimmert. Sie war sehr steil.
Henry fluchte, als er sich den Kopf an der niedrigen Decke stieß. Unten angekommen, stellte er fest, dass er nicht aufrecht stehen konnte. Er blickte sich um, entdeckte aber nur das übliche Kellerinventar. Eine Waschmaschine, eine brummende Tiefkühltruhe, Regale voller Konserven, Gläser mit selbst gekochter Marmelade, staubige Weinflaschen. Aber nichts, was den bläulichen Schimmer erklären konnte. Am Ende des Raumes befand sich eine schwere Stahltür. Er öffnete sie und hatte die Quelle des Lichts gefunden.
Der Raum war eingerichtet. An einer Wand stand eine Pritsche, darauf ein Schlafsack, daneben ein Campingtisch, auf dem ein Laptop thronte. Er war aufgeklappt und aktiviert. Henry trat näher heran und erkannte, dass er das Bild der Straße vor dem Haus zeigte.
»Ich fasse es nicht«, sagte er, »eine Überwachungskamera.« Die Haustür von Evi Liebermann war gut zu erkennen. Einer Eingebung folgend legte er die Hand auf die Sitzfläche des Stuhls, der vor dem Tischchen stand. Sie war noch warm. Abrupt richtete er sich auf und stieß sich dabei erneut den Kopf an der Decke. Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung wahr. Er fuhr herum und sah, wie sich die Tür hinter ihm geräuschlos schloss. Mit einem Satz katapultierte er sich voran, um sich mit der Schulter dagegenzuwerfen. Doch noch im Sprung hörte er das Geräusch des Riegels, der von außen vorgeschoben wurde.
»Theo ist jedenfalls aus irgendeinem Grund davon überzeugt, dass die ganze Sache etwas mit Sanna zu tun hat«, sagte Hanna.
»Dann sollten wir zusehen, dass wir sie irgendwie aufstöbern. Wo steht Theos Rechner?« Fatih zog angesichts von Theos PC die Augenbrauen hoch. Für seine anspruchsvollen Begriffe war das zwei Jahre alte Gerät vollkommen veraltet.
Er startete den Rechner und trommelte mit den Fingern, weil es ihm nicht schnell genug ging.
Lilly hatte es sich mit Paul auf der Couch im Büro bequem gemacht, neben ihr saß May, die die Füße hochgezogen hatte und mit ihren dünnen Beinen und schmalen Schultern selbst noch wie ein Mädchen wirkte. Hanna hatte sich auf der tiefen Fensterbank niedergelassen. Lars stand mit überkreuzten Armen an den Türrahmen gelehnt. Und alle Augen waren auf Fatih gerichtet.
Auf dem Monitor erschien die Eingabemaske für den Benutzernamen und das Passwort. Fatih versuchte, sie zu überspringen, musste aber feststellen, dass Theo tatsächlich ein Passwort festgelegt hatte. Er blickte über die Schulter in die Runde. »Kennt einer von euch zufällig Theos Benutzerdaten?«
Hanna zuckte mit den Schultern.
»Keine Ahnung«, sagte Lars.
»Versuch es mit ›Nadeshda‹«, sagte May leise.
Fatih wandte sich wieder dem Bildschirm zu. Er gab ›Theo‹ als Benutzername ein und dann ›Nadeshda‹ als Passwort. Es funktionierte nicht. Er versuchte
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