In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
Kilometer bis nach München, in ihre alte Heimat, wo noch immer ihre Schwester lebte. Drei Wochen im Jahr tauchte sie ein in ihr bayerisches Element, trank viele Radlermaß und den einen oder anderen Russ’ – ein Mixgetränk aus Weißbier und Zitronenlimonade. Aß große fleischige Brezen mit Obazda – einer bayerischen Biergartenspezialität, die im Wesentlichen aus zerdrücktem Camembert, Frischkäse und Paprika bestand, und kraulte mit der verblüffenden Eleganz einer Seekuh durch den Starnberger See.
Jetzt saß sie satt und zufrieden mit ihrer Schwester auf dem winzigen Hinterhofbalkon der Schwabinger Wohnung, streichelte die Katze auf ihrem Schoß und genoss die warme Nachtluft. Mehr als dreißig Jahre hatte sie zuerst Theos Vater und dann Theo selbst dabei geholfen, die Leichen zurechtzumachen. Über jede einzelne von ihnen hatte sie eine Notiz in ein kleines schwarzes Heft geschrieben, das sie immer mit sich herumtrug. Der erste Tote war Herbert Brenner gewesen, den es im Herbst 1975 im Alter von siebenundachtzig Jahren beim Beischlaf mit seiner sehr viel jüngeren Frau dahingerafft hatte. Die letzte und exakt die dreitausendste Leiche war Anja Köppke, dreiundfünfzig, die sich das Leben genommen hatte. Noch immer hatte Fräulein Huber auf ihrem Mobiltelefon eine besondere Melodie für das Bestattungsinstitut Matthies gespeichert, sodass sie auch jetzt sofort wusste, woher der späte Anruf kam.
Sie grub das uralte Handy aus ihrer voluminösen Handtasche, die sie stets bei sich trug. »Ja mei, des ihr a oide Frau net amal im Urlaub in Ruhe lassen könnt«, sagte sie mit gespieltem Zorn.
»Ich bin’s, Fräulein Huber, May.«
Es ist typisch für May, sich nicht lange mit Entschuldigungen ob der späten Störung aufzuhalten, dachte die Huber. »Was gibt’s denn, Schatzerl?« Sie sah die zierliche junge Asiatin vor sich, die sie höchstpersönlich als ihre Nachfolgerin angeschleppt hatte, als sie selbst zu Theos Entsetzen in den Ruhestand gegangen war. Das Mädchen war ein Goldstück.
»Erinnern Sie sich an einen Dr. Sörgel? Der muss in den Neunzigerjahren in Wilhelmsburg praktiziert haben. Als Orthopäde, glaube ich …«
»Der Dr. Sörgel? Freilich kann i mi an den erinnern. A fesches Mannsbild ist der gewesen, hat aber die Nas schon recht hoch getragen, der Herr Doktor. Zu dem bin i einmal gegangen und dann nimmer.«
May sah ihre Hoffnung, Informationen aus Fräulein Huber herauszubekommen, schwinden. »Wissen Sie zufällig, wie er mit Vornamen hieß?«
Fräulein Huber musste nicht lange überlegen: »Gerhard hat der geheißen, Dr. Gerhard Sörgel.«
May blickte zu Fatih hinüber und hob den Daumen. »Er heißt Gerhard.«
»Und warum, bittschön, rufst a oide Frau dafür mitten in der Nacht an?«, fuhr Fräulein Huber fort.
»Das ist ein bisschen kompliziert.« May zögerte. Sollte sie Fräulein Huber von Theos Verschwinden berichten? Sie hatte ihn schon als kleinen Jungen gekannt und hing an ihm. Sie beschloss, vorerst nichts zu sagen. »Hören Sie, Fräulein Huber, ich erklär’s Ihnen später, aber jetzt hab ich’s gerade ein bisschen eilig.«
»Gib mir mal den Theo«, sagte Fräulein Huber argwöhnisch.
»Der ist nicht da, tut mir leid.« Mays Stimme klang ungewohnt kleinlaut.
»Maderl, was ist da überhaupt los bei euch?«
Und so kam May nicht umhin, Fräulein Huber haarklein alles zu berichten, während Fatih sich bereits in die Tiefen des World Wide Web begab, auf der Suche nach Dr. Gerhard Sörgel in Kanada.
»Welche Sprache ist da eigentlich verbreiteter – Englisch oder Französisch?«, wollte er wissen.
»Englisch«, sagte Lars.
Und so stellte Fatih die Suchmaschine zunächst so ein, dass sie bevorzugt englischsprachige Seiten vorschlagen würde.
»Und?«, fragte Hanna, die näher gekommen war und ihm über die Schulter spähte.
»Nada.« Fatih deutete auf den Bildschirm, »›Sörgels‹ beziehungsweise ›Soergels‹ mit ›oe‹ gibt es ein paar, aber keinen Gerhard.«
Er veränderte erneut die Optionen der Suchmaschine, sodass nun Französisch bevorzugt wurde – und landete einen Treffer. Er rief die Seite des niedergelassenen Orthopäden Dr. Gerhard Sörgel in Montreal auf. Anschließend öffnete er den Link ›l’équipe du cabinet médical‹, unter dem sich die Fotos aller Mitarbeiter fanden. Sörgel war trotz der tiefen Falten, die sich um seine Mundwinkel gegraben hatten, ein gut aussehender Mann Mitte sechzig mit vollem, grau meliertem Haar.
»Das muss
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