Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In unseren grünen Jahren: Roman (Fortune de France) (German Edition)

In unseren grünen Jahren: Roman (Fortune de France) (German Edition)

Titel: In unseren grünen Jahren: Roman (Fortune de France) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Merle
Vom Netzwerk:
höchlichst wunderte.
    Mein Blick, gestehe ich, schweifte nach oben, wo ich eine Reihe randvoll mit Süßigkeiten gefüllter Gefäße entdeckte, Dragees in allen Farben, Nougats, kandierte Früchte und andere Köstlichkeiten, die mir so schön und genüßlich dünkten, daß mir das Wasser im Munde zusammenlief, zumal ich schon Hunger verspürte. Doch solange ich bei Meister Sanche wohnte, ist vom Inhalt dieser wundervollen Behältnisse leider nie etwas auf den Tisch gekommen.
    »Da ist der hochrühmliche Meister«, sprach Balsa und klopfte mit seinem Stab auf den Tisch. Auf der Schwelle erschien Meister Sanche. Anders als am Vortag, trug er diesmal nicht schlichtes Wams und kam nicht barhäuptig, sondern in einem Gewand, in dem ich ihn hinfort täglich über seinen Geschäften sehen sollte, in einer Robe aus glänzender schwarzer Seide, die geziert war mit einem Silbergürtel, und eine Stoffmütze mit amarantfarbener Quaste auf dem Kopf.
    In der Hand hielt er, wie Balsa auch, einen feinen Stab aus Rosenholz, doch war dieser, seinem Stande gemäß, länger, schöner, reicher verziert, er war gefirnißt und an den beiden Enden sowie in der Mitte mit silbernen Ringen versehen. Dieser Insignie von Macht bediente sich Meister Sanche, um seine Worte zu unterstreichen oder um einem Befehl Nachdruck zu verleihen, indem er auf den Tresen klopfte, oder aber – und das wohl war der ursprüngliche und eigentliche Gebrauch – um auf ein hoch oben eingereihtes Gefäß zu zeigen, das einer der Gehilfen mittels Leiter für ihn herunterholen sollte. Doch wie sehr er seinen Rosenholzstab auch schwang, wenn er im Zorn diesen oder jenen Gehilfen schalt, ich habe nie erlebt, daß er sich, nach Art der römischen Liktoren, der Rute bedient hätte, um irgendwen zu schlagen, sei es seinen schalkhaften, quirligen Laufburschen. Denn wie prahlerisch und ruhmgeschwellt Meister Sanche auch tun mochte, er hatte kein hartes Herz und war kein Berserker.
    Der Herr Apotheker kam uns entgegengeeilt, und ich fand ihn auch bei Tageslicht so wenig ansehnlich, wie es bei Kerzenschein der Fall gewesen war; er schielte gräßlich, krummund verbogen war seine lange Nase, vom Körper gar nicht zu reden, den hätte sich ein Bildhauer selbst im Suff nicht zum Modell erwählt. Aber war nicht auch Sokrates häßlich gewesen? Allerdings verblüffte mich das majestätische Gepräge, mit dem der Mann uns entgegenstolzierte, in der Rechten seinen silberberingten Stab, als wäre dieser ein Königszepter. Augenblicklich erhob ich mich.
    »Te saluto, illustrissime magister«
1 , sprach ich und machte eine tiefe Verbeugung. Auf meine laute Rede hin schreckte Samson aus der glückhaft träumerischen Betrachtung des Dosengewimmels an den Wänden, erhob sich gleichfalls und grüßte wortlos den Apotheker.
    »Meine lieben Neffen!« rief Meister Sanche, öffnete weit die Arme und rieb seinen langen Graubart an unseren Wangen.
    Er legte so viel Wärme und so viel okzitanisches Gemüt darein, daß ich ganz gerührt war und nur bedauerte, daß der brave Mann bei den Fleischtöpfen so knauserte. Er selbst aß freilich wenig, und da mochte es schon verwundern, daß er trotzdem einen so runden Wanst und einen so fülligen Steiß hatte.
    Nach tausend Begrüßungsworten in Latein, Französisch und Okzitanisch und weiteren tausend Willkommenswünschen, die er nicht abzukürzen vermochte, sprach Meister Sanche:
    »Meine Neffen, ich habe Euch herbestellt, um Euch die geheimen Orte zu zeigen, an denen wir die Medizinen meiner Offizin aufbewahren und fertigen. Dies wird Euch lehren:
Adeo in teneris consuescere multum est.
2 «
    Bei solchem Angebot leuchtete Samsons Auge wundersam auf, und auch ich war entflammt bei dem Gedanken, daß mir die vielen Seltenheiten und Seltsamkeiten, daraus jene Arzeneien gebraut wurden, von denen mein Vater mir erzählt hatte, so nah vors Auge gerückt würden. Ich sprach dem Meister also meinen großen Dank aus für sein Anerbieten und versicherte, welch gewaltige Gunst mein Bruder und ich darin sähen, gleichwie bescheiden in die Geheimnisse seiner Wissenschaft Einblick zu gewinnen.
    »Ihr werdet nur den Schein, die Oberfläche kennenlernen«, sprach Meister Sanche mit bedeutungsvollem Lächeln. »Dochselbst das ist schon viel. Ausgenommen den königlichen Professor am Medizinkolleg, der mich unseren Regeln gemäß einmal im Jahr aufsuchen darf,
pauci sunt quos dignos intrare puto.
1 «
    Er wechselte seinen Stab aus der Rechten in die Linke, holte einen

Weitere Kostenlose Bücher